„Victoria“ kündigt sich schnell als Probe für das geschulte Auge des Kinogängers an: Mit einem Stroboskopgewitter eröffnet Regisseur Sebastian Schipper den Zugang in eine Berliner Nacht, der wir als geisterhafte Begleiter in Echtzeit und (angeblich) einer einzigen Einstellung beiwohnen dürfen. Schippers Film birgt nämlich die Ambition, anhand eines Kraftakts aus Organisation, Kamera und Schauspiel das Maximum an Realismus darzulegen – und größtenteils ist dieses narrative Experiment auch gelungen. So lernen wir unsere Protagonistin (Laia Costa) zunächst als unbedarfte Klubgängerin im Rausch der Musik kennen, deren Schicht im Café um die Ecke in wenigen Stunden beginnt. Auf dem Weg nach draußen begegnet sie allerdings zufällig vier feiernden Gesellen, anhand derer sich allmählich ihr Hintergrund öffnet; dass sie aus Madrid kommt, erst drei Monate in Berlin wohnt und dem urbanen Spaß der Jungs gar nicht mal abgeneigt ist – so, wie man jemanden im Smalltalk eben kennenlernt.
Schippers Ensemble befähigt hier eine Natürlichkeit, wie man es gerne öfter so konkret und leichtfüßig sehen möchte. Hier wirkt keine dramaturgische Richtung, sondern die Neugierde des Alltags und der Kommunikation im für uns nachvollziehbaren Sozialverhalten des Nachtlebens. Der durchgehende Fluss der Atmosphäre lädt ohnehin zum Folgen ein, da Victoria zum Katalysator des Zuschauers wird, die nicht ganz so unschuldigen, doch liebenswerten Haudegen Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuss (Max Mauff) bei ihren Eskapaden im konzentrierten Ambiente eines Berliner Stadtteils kennenzulernen. Dabei lässt sie sich ebenso zu einigen harmlosen Kavaliersdelikten hinreißen, ist damit aber auch williger Teilnehmer einer Tour durch die Nacht, die reizvolle Möglichkeiten verspricht – und sei es, wie in diesem Fall, hauptsächlich Freundschaft. Die Kennenlernphase wirkt jedenfalls erfrischend unkonstruiert und lässt geradezu unbemerkt später entscheidende Charakteristika auffahren. Sie entrinnt zudem der Verantwortung jobabhängiger Pflichten wie eben auch Signalen der gängigen Filmerfahrung – zumindest bis zu einem gewissen Punkt.
Die verfolgende Perspektive des Films ist nämlich an keinen Charakter direkt gebunden, folgt also irgendwann merklich Eindrücken, die dem Verständnis des Ganzen dienlich sind. So weit, so gut. Als jedoch der Gang zur Unbedarftheit vollzogen wird, wird der O-Ton ausgeblendet; gefühlsbetonte Musik schleicht sich ein und veräußerlicht die Euphorie von der Freiheit zu neuen Erwartungen. Somit entsteht also doch ein filmischer Rahmen, da uns nun eine Inszenierung an den Inhalt heranträgt, der Inhalt jedoch weiterhin selbstständig als ungekünsteltes Treffen der Individuen arbeitet. Gleichsam wächst die Sympathie zwischen den Charakteren, wie auch jene zwischen uns und ihnen – eine Selbstverständlichkeit jedes empathischen Films; hier immerhin durch den Austausch der Persönlichkeiten diktiert, der im Vergleich zur Abstrahierung einer Dreiaktstruktur jeden Schritt zwischen den Stationen mitnimmt und nutzt. Für die Schauspieler ist diese ausgelebte Wahrhaftigkeit ihrer Figuren von Vorteil, aber dennoch eine beachtliche Leistung.
In kleinen Gesten und spontanen Späßen erzählt man voneinander, bis man sich wünscht, die Nacht würde nie zu Ende gehen. Schippers Einblick in die Intimität seiner wenigen Charaktere offenbart bescheidene und doch tiefe Sehnsüchte und verspricht eine Nähe jenseits der Leinwand, die stilistisch so ungehemmt wie nur möglich in die Auffassung cineastischer Lebendigkeit blickt. Jene Transzendenz wird aber schließlich doch eingedämmt, sobald die Genre-Merkmale des Thrillers in das Leben der Figuren treten. Die Motivation dazu wirkt aber kohärent, da die extensive Charakteretablierung schon den Drang nach Freundschaft und Liebe erklärt hat – und das, obwohl Victoria wie auch der Zuschauer jeden erst knapp eine Stunde lang kennt. Drum fühlt Schippers folgende Vermittlung der Ereignisse von Untergrund, Banküberfall und Flucht direkt am Puls, weil man nun ebenso im pausenlosen Strom der Eskalation und Verzweiflung mit drin hängt und ein Ausweg nur in der Begleitung der Handlungsträger durch das Prozedere stattfinden kann. Problematisch sind nur die begrenzten Möglichkeiten jenes Genre-Modells, das hier genutzt wird und einer eher romantisierten Logik von flüchtenden und liebenden Kleinganoven folgt, die im Milieu aufgewachsen sind und mit blutiger Ehre doch noch Verantwortung üben.
Letztendlich kann im Verlust des Potenzials einer neuen Bindung nur Enttäuschung und Trauer entstehen. Ein Wink der Hoffnung zukunftsträchtiger Mittel bleibt zwar vorhanden, aber vage. Hierin äußert sich eben auch das Dilemma des kontemporären deutschen Films an sich, sein Schubladendenken aufzugeben und über dieses hinauszugehen. Die neue Form strebt dabei nach humaner Konsequenz, dreht sich aber in erzählerische Kompromisse hinein, obgleich sie diesen entkommen möchte. Die Motivation ist da und löblich, doch vollends bereit ist noch keiner. Dieser verhaltene Einblick in die Möglichkeiten eines neuen Kinos kommt auf den Boden filmischer Tatsachen zurück, anstatt eine komplett eigenständige Richtung einschlagen zu können – und das, obwohl die Kamera überall eindringen und Leben zeigen kann. Die Erlösung aus den Klauen der Konventionen lässt sich am Horizont des Morgengrauens erahnen – doch bleibt die Kamera davor stehen. Die Spannung zum nächsten Schritt ist aber dennoch gegeben. Wie meint Sonne doch zu Beginn des Films so frech und doch traumtänzerisch: „Irgendwann gehört der Klub uns!“
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