Nebel wabert durch die mit Gaslaternen beleuchteten Kopfsteinpflasterstraßen Londons, als ein Edelmann mit Zylinder eine elegante Kutsche verlässt, während irgendwo in der Ferne Züge aus Landschaften donnern und dem Gesetz des gedruckten Fahrplans folgen. Ein charmant altertümliches viktorianisches England prallt auf die romantische Illusion namens Sherlock Holmes, wie auch eine Periode des Wandels und der technischen Innovation auf das vermeintliche Sakrileg stößt, Geschichten in ein Jahrzehnt zu hieven, welches sich vor allem bekannten Erfindungen annahm, aber schwerlich neue entwickelte und perfektionierte. Tatsächlich schwankt auch die mittlerweile zweite Staffel von „Sherlock“ zwischen beinahe bipolaren Extremen mit leidlich wenig Spielraum: Umwerfend raffinierte Aktualisierungen der Motive um Holmes summen neben zerfasernden Handlungen, die jederzeit bersten könnten; Witze, die vor Esprit und Vitalität sprühen, wanken gegen Sätze, die bleiern und überladen verstummen; und Charaktere, in die wir uns in einer einzigen Szene verlieben, drücken eindimensionale Hyänen nieder. „Sherlock“ erzählt von einer Frustration aus Widersprüchen, Unplausibilitäten und Konstrukten, die dennoch seltsam beeindrucken.

Darin bleibt die zweite Staffel eins in der Berechnung und Sorgsamkeit mit der Martin Freeman und Benedict Cumberbatch ihre Beziehung um John Watson und Sherlock Holmes bislang strickten und einen geistreichen Überzug Holmes’scher Tropen und Erzählungen in das 21. Jahrhundert überliefern. Obwohl die erste Staffel Holmes und Watson mir ihren bestimmenden Attributen einführte, ließ sie dennoch eine Adaption der Werke von Sir Arthur Conan Doyle schmerzlich vermissen und tränkte eher feine Referenzen, wie ein flüchtiger Wink auf „Eine Studie in Scharlachrot“ in der ersten Episode „Ein Fall von Pink“ beweist; und „Die Bruce-Partington-Pläne“ als Nebenstrang von „Das große Spiel“. Nun treibt die zweite Staffel auf die ikonischen Ereignisse in Holmes’ Karriere zu und die sehnsüchtig erwarteten Akteure des Kanons: Irene Adler und James Moriarty.

Ein Skandal in Belgravia

Besonders interessant ist dennoch, inwiefern die zweite Staffel den Eindruck vermittelt, „Sherlock“ dürste nach dem Stempel seines Ausgangsmaterials, doch vertraue ihm nicht vollends. „Ein Skandal in Belgravia“ entspinnt rasant seine Modernisierung um eine zwielichtige Frau („die“ Frau) mit belastenden Informationen über einen mächtigen Mann. Zunächst offeriert die Episode alle Ingredienzien von „Ein Skandal in Böhmen“ in seiner Anspannung, dem Humor und der Schnelllebigkeit unter seinen untilgbaren Figuren. Doch als diese Geschichte ausläuft, fügt „Sherlock“ eine Verwicklung an, in der Irene Adlers (Lara Pulver) Handlungen von ungezogen, aber dennoch verständlich bis zu abscheulich und potenziell katastrophal verschwimmen, und die Episode zu einer konfusen Unordnung umstimmen. Die stechende, bewegliche Erzählung wandelt sich zu episodischer Wirrung, die schwerlich zum Ende kommen möchte. Tatsächlich ist „Ein Skandal in Böhmen“ eine zutiefst anregende Erzählung – nicht nur, da Holmes geschlagen wird, nicht, da die Person dahinter eine Frau, sondern weil Irene Adler völlig desinteressiert in Holmes ist. Es ist eine Geschichte, die Holmes’ Wertschätzung des Intellekts beleuchtet, aber in „Sherlock“ den elementaren Anstand nutzt und Holmes zu einem amoralischen Soziopathen wandelt.

Die Hunde von Baskerville

Dagegen überträgt „Die Hunde von Baskerville“ außer der Grundprämisse wenig von seiner Romanvorlage: die Legende des Hundes und des jungen Erben, der fürchtet das nächste Ziel zu sein; einige Namen von Charakteren; und das eigentliche Thema Holmes’ Rationalismus gegen den Aberglauben der anderen Figuren auszuspielen. Die Ausführung jedoch bleibt nachlässig und verwurzelt in der Dummheit seiner Spieler, ihrer unerklärlichen Bereitschaft Holmes entgegenzukommen und schlichter Zufälle, die eine rationale Auflösung der Legende bevorzugen, statt der übernatürlichen und weitaus plausibleren. Zudem duldet die Episode Holmes als Randfigur, um Watson Beweise sammeln zu lassen, während Holmes aus der Ferne die Spielzüge observiert und nur erscheint, als das Mysterium einer Lösung in den Schlusskapiteln des Romans bedarf. „Sherlock“ bedient sich zu sehr lediglich seines Titelcharakters und seinen Mätzchen, um dann hauptsächlich mit den emotionalen Gepflogenheiten einmaliger Figuren hausieren zu gehen. Weder „Ein Skandal in Böhmen“ noch „Der Hund von Baskerville“ folgen diesem Strang und lassen schmerzlich darauf schließen, sie wären beide nur aufgrund ihrer Popularität ausgewählt worden und nicht aus einer übergreifenden und adäquaten Vision heraus.

Der Reichenbachfall

Glücklicherweise verheiratet „Der Reichenbachfall“ Holmes treffender mit „Sherlock“. Natürlich vertraut die Handlung, wie zu viele Geschichten der Serie, auf Zufälle und Banalität, aber diese Löcher im Firmament wirken erst im Nachhinein. Die Geschichte funktioniert, indem eine Bedrohung mit Leichtigkeit unter Holmes’ Schale fährt und diese Bedrohung mit fortwährend ausgezeichneten Herausforderungen ihn in sein Schicksal treibt. Sogar das Tempo, und damit eine konsistente Problematik in allen Episoden, hält bravourös mit Verve, die die unerhörtesten Handlungslücken verschleiert, ohne an den Figuren und ihren Interaktionen zu sparen.

Eigentlich jedoch ist Martin Freeman die Geheimwaffe von „Sherlock“; manchmal so geheim, wir könnten meinen, selbst die Autoren hätten ihn vergessen. Mit leidlich genug Laufzeit oder Material konstruiert er nicht nur einen komplexen Charakter, sondern spendet der Serie ein pochendes Herz: Zäh und verletzlich, linkisch und entsetzlich fachkundig, penibel und abenteuerlich, Holmes ergeben und gleichsam zutiefst durch ihn verärgert. Was der zweiten Staffel mit all ihrer Betonung auf den holmes’schen Kanon mangelt und nun in den Fokus rückt ist allerdings: Der Fehler an „Sherlock“ liegt in, nun, Sherlock selbst. Nicht der großartigen Figur oder Benedict Cumberbatch, der mit Grazie und Souveränität zwischen Humorist und Genie schwankt, und daraus eine charmante Mahlzeit kreiert. Nein, das Problem ist die Verliebtheit in Holmes und gleichzeitig die Bereitschaft jede Erwägung in puncto Handlung und Charakter abzusondern, um ihn just seine Sache machen zu lassen. Denn die Serie läuft nur stringent zusammen, wenn sie aus Johns Perspektive erzählt wird, wenn seine gewöhnliche Perspektive die außergewöhnliche Holmes’ schlichtet. Doch noch ist sie zu verliebt in Holmes, um das jemals geschehen zu lassen.

Umsetzung für das Heimkino

Die Umsetzung durch Polyband lässt wenig Wünsche offen und besticht mit einer ausgefeilten Bild- und Tonspur. Das Keep Case enthält zwei Discs, die in Deutsch und Englisch in DTS-HD MA 5.1 abgespielt werden können und weiterhin passende Untertitel bieten. Zudem enthalten ist auf Disc 2, neben der dritten Folge, die Dokumentation „Sherlock Unlocked“ und Audiokommentare zu den Folgen „Ein Skandal in Belgravia“ und „Die Hunde von Baskerville“. Ein 15-seitiges Booklet liefert Informationen zu den einzelnen Episoden und Charakteren.

Meinungen

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