2011 wurden in der Niederlande Kulturförderungen gekürzt, deswegen wählte der 62-jährige Alex van Warmerdam Crowdfunding als weitere Finanzierungsmöglichkeit; 500.000 Euro konnte er damit erfolgreich einfangen. Zusammen mit seinem Bruder Marc produziert er seine Filme seit 1993 unter dem Firmennamen „Graniet Film“, „Borgman“ ist sein achtes Werk und mehr als beachtenswert.

In „Broken Circle Breakdown“ singt der Belgier Jan Bijvoet noch, als Camiel Borgman verwandelt er sich hier vom Unterirdischen in eine menschliche Gestalt. Johann Heinrich Füsslis „Nachtmahr“ (1802) war für den Maler und Regisseur van Warmerdam sicherlich eine Inspiration für die filmische Referenz des Nachtmahrs, die immer wieder auftaucht. Ein wahrliches Bild des Grauens; und grauenvoll ist auch die absurde Geschichte um die Dekonstruktion einer wohlhabenden fünfköpfigen Familie. Es klingt sympathisch: Weg mit der Dekadenz, weg mit dem Rassismus, weg mit dem überbordenden Luxus’ – lasst uns den Garten Eden neu bewachsen, lasst uns die Regeln brechen und abrechnen. Anarchistische Tendenzen mit dämonischer Wirkungskraft fallen wie Engel auf die lupenreine Idylle herab, vor Übernatürlichkeit scheint selbst Reichtum nicht zu schützen. Die mystische, satirische Herangehensweise gepaart mit der absoluten Selbstsicherheit von Borgmans Organisation amüsiert das Herz des schwarzen Humors. Diese „Terroristen“ sorgen ohne Explikation für Unheil. Aber das ist auch in keinem Moment nötig, da der möglicherweise verdrängte Hass gegen die Bourgeoisie wiedererweckt wird, die Konsequenzen für das fromme Verhalten inmitten all ihrer Scheinkultur und klar geregelter Dominanz verdient sind. Sind die Engel böse? Eher nicht.

Was für ein intelligenter Film „Borgman“ wirklich ist, ergibt sich nicht nur während des Zuschauens. So wie der Titelgeber als Alp nachts auf der besessenen Mutter sitzt, bleibt der äußerst verstörende Stoff entweder anbleibendes Unbehagen oder Grübeln. Zu viel sollte man aber nicht interpretieren; um Satan handele es sich in keinem Fall, wie van Warmerdam selbst sagt. Er arbeitete induktiv, von der ersten Szene ausgehend und sich weiterentwickelnd. Ein Film voller Aussagen und Symbole, ein Film, der sich nichts draus macht, etwas genauer erklären zu müssen, sondern dem Zuschauer eine gewisse Konzentration abzuverlangen, ein gewisses Verständnis, selbst wenn sich die Puzzleteile erst nach langem Überlegen ergänzen. Zahlreiche Anspielungen machen zufällige Übereinstimmungen kaum vorstellbar. So ist in der Eröffnungsszene ein Priester mit Schrotflinte in der Hand zu sehen wie Julien Bertheau in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ von Luis Buñuel. Dazu kommt, dass Bertheau als Gärtner für ein bourgeoises Paar arbeitet, in „Borgman“ pflegt der Protagonist den Garten. Buñuel war auch Ursprung dieses Films. Abgesehen von der Tatsache, dass van Warmerdam den Spanier neben Hitchcock, Melville, Dick und Doof zu den größten Inspirationen in Hinsicht auf seine Regiearbeit zählt, öffnete er dem Niederländer die Augen mit einer Aussage über Marquis de Sade: „Die Imagination ist frei, der Mensch nicht.“

Ein nicht unwichtiges Detail ist die Herkunft des Namens Camiel. Chamuel/Camiel ist einer der sieben Erzengel, er soll bei Depressionen und Spannungen in der Familie beziehungsweise Partnerschaft helfen, schafft Vertrauen und Geborgenheit. Aberwitzig ist die filmische Realität, wobei vielleicht gerade dieser Kontrast neue Denkanstöße geben könnte. Er bewahrt die Kindheit vor dem moralischen Untergang, gleichzeitig ist jedoch vor allem eine der drei Kinder entweder absolut rigoros im Sinne der organisierten Bewegung Borgmans oder von kaltblütiger Gewalt infiziert. Neben den surrealistischen Einflüssen erinnert das plötzliche Erscheinen einer alles verändernden Figur an Michael Hanekes bahnbrechendes Duo aus „Funny Games“ (1997) und an Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ von 1968, in dem Terence Stamp ähnlich wie ein Engel für absolute Verwirrung sorgt. Die beiden Eltern – eine instabile, scheiternde Ehe ohne Perspektive auf Scheidung – sie sind der Kern, der dem Erscheinenden interessiert. Die Opfersuche erfolgt durch Provokanz: Der gestresste Richard (Jeroen Perceval) schlägt dem fremden Elend Camiel die Tür vor der Nase zu, als dieser fragt, ob er denn bei ihnen baden könne. Dann verprügelt er ihn, da er behauptet seine Frau Marina (Hadewych Minis) zu kennen. Marina hat ein schlechtes Gewissen und Camiel leichtes Spiel.

Nimmt man an, das Grundstück sei der vermeintliche Garten Eden, Richard sei Adam und Marina sei Eva, dann käme Borgman nur für die Schlange infrage, da er Marina zur Sünde verführt. Doch das Vermeintliche ist keineswegs das Paradies; zwischenmenschliche Probleme, Neid und Egoismus behindern die Harmonie. Deswegen ist van Warmerdams Ansatz genial, denn seine Darstellung des ambivalenten Engels, dessen genauer Hintergrund nur Spekulation bleibt, ist den meisten Künstlern unserer Zeit einen Schritt voraus.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Borgman“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 16.02.2017

Elle

Paul Verhoeven kehrt zum Wechselspiel der Moral in der humanistischen Rücksichtslosigkeit zurück.

Kinostart: 08.12.2016

Right Now, Wrong Then

Hong Sang-soo parodiert die Macht der Wahrnehmung, indem er sie egoistisch nacherzählt.

Kinostart: 01.12.2016

Die Hände meiner Mutter

Florian Eichinger blickt realitätsbewusst auf die Anatomie und Konsequenzen des Missbrauchs.

Kinostart: 17.11.2016

Amerikanisches Idyll

Ewan McGregors Regiedebüt bemüht nur ein vages und moralinsaures Porträt einer Radikalisierung.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.