Die Flasche gehört dem Film und ihr Inhalt demjenigen, der nicht von ihr lassen kann. Nicht bloß ein alltägliches Objekt ist hiermit gemeint, sondern in ihr reflektiert sich zugleich Protagonist wie Antagonist. Metapher, MacGuffin, Übergang, bedeutungsaufgeladen und fatalistisch. Ein Portal in den gleichermaßen moralischen wie sozialen Niedergang. Sie baumelt an einer Schnur aus dem Fenster, wirft betrügerische Schatten, dämmerig, schwarz und absolut zeichnet sich ihre Silhouette ab. Sie kullert aus den Geheimecken, wird versteckt, wird gesucht, wird ausgeschüttet. Billy Wilders Säufertagebuch „Das verlorene Wochenende“, damals wagemutig, heute beunruhigender denn je, dreht, windet und kreist um diese (Schnaps-)Flasche, greift auf sie zurück und akzentuiert mit ihr einen Teil des Bildausschnitts. Vor und hinter ihr nimmt die Tragödie ihren Lauf: Die Selbstzweifel, Selbstentwürdigung und der Selbstbetrug eines desillusionierten Trinkers, dem im Hohlraum erdrückender Scham des Aufstehens, Aufhörens und Weitermachens das amerikanische Glück verwehrt bleibt.

In einzelnen Stadien kurz aufeinanderfolgender Tage zeichnet Wilder das Nichtwollen und Verlangen, das Distanzieren und Resignieren von Don Birnam (Ray Milland) nach, Durchschnittsmensch, arbeitslos, blockiert. Er ist ein ausgebrannter Schriftsteller auf der Suche nach dem Wort, künstlerischer Inspiration und der auf dem weißen Blatt Papier aufleuchtenden Idee. Aber obwohl er immer den Anfang kennt, kennt er nicht den Fluss einer Geschichte und schon gar nicht deren Halt, an dem sie stoppt. Wie bei sich selbst. Denn die Glasabdrücke, die er nach jedem Schluck hinterlässt, geometrisch fein geschwungene Kreise ohne Unterbrechung, symbolisieren Beständigkeit und ein Karussell, auf dem er sich schneller in einem Kreislauf um die eigene Achse bewegt. Mit ihm als Verlorenen und Unersättlichen führt der Film einen Kampf gegen die Überschwemmung. Birnams Odyssee durch eine Schattenwelt, kontrastiert von verschlossenen, geöffneten und leeren Whiskey-Flaschen, dirigiert ihn dorthin, wo er einst glaubte, seiner Sucht abgeschworen zu haben, in zwielichtige Kneipen, Clubs, Spirituosengeschäfte, nach unten, ganz ganz unten, in ein geflutetes Moloch.

Einmal angekommen wiederholt Wilder die methodischen Handgriffe Birnams, wo er sich auch gerade befindet: zerknüllen, herausziehen, betteln, geben, Glas leer. Erst Geld sammeln, dann über den Tresen schieben. „Das verlorene Wochenende“ ist deswegen auch ein Film des Rückfalls, dessen Wiederholungskonzept Rituale und Automatismen mit einschließt, Vorboten jener zerstörerisch-zersetzenden Kräfte, die das Innere Birnams angreifen, um es destruktiv zu entladen – und der Wille, es beim allerletzten Glas zu belassen, obendrein gebrochen wird. Je tiefer Birnam ins Elend der Tristesse dringt (beispielsweise in einer Alkoholikerstation), desto schwüler, wankender und hitziger erweitert sich Wilders zunächst sprödes Figurendrama zum halluzinatorischen, surrealen Horrorfilm. Mit den expressiven Gestaltungsmitteln des Film noirs gemahnt er an eine fiebrige Atmosphäre des totalitären Gefangenseins – netzartige Gitterschatten, schräge Unterperspektiven und ein Soundtrack maschineller, pfeifender Klagelaute, die das Leid der Hauptfigur kryptisch verschlüsseln. Auf Phasen der Erholung folgen Abschnitte des Niedergangs. Birnham gerät in das Auge eines Sturms, das er – durchaus mit einem Augenzwinkern, seiner letzten Verteidigung – lyrisch umschreibt.

Wie differenziert und sensibel dabei Ray Milland den Saufbruder aus der Nachbarschaft spielt, ist sagenhaft und schlicht eine Sensation. Milland agiert auf vielschichtigen Gefühlsebenen gleichbleibend ungekünstelt und virtuos, wenn er etwa ein Theaterstück sieht, in dem die Akteure trinken und nachschenken, während er sich mit der Zunge über die Lippen leckt und die Spannung spürt, sein Verlangen zu löschen. Der Sensibilität und reifen Haltung Billy Wilders ist es zu verdanken, dass er Don Birnam zu keiner Zeit diskreditiert, sondern nicht aufgibt, ihn anzustoßen, um ihn an eine Zukunft zu koppeln, die ungewiss, aber nicht unmöglich scheint. Wie in jedem Wilder-Film versteckt sich auch hier, in „Das verlorene Wochenende“, neben einer latent humoristischen somit auch eine romantische Note in Gestalt von Birnams Freundin Helen (Jane Wyman). Die Beziehung beider beginnt, endet und erblüht auf ähnliche Weise und erfährt eine Klammerung. Mit einem vertauschten Trenchcoat und Leopardenmantel begann alles, endete alles – und mit der Schreibmaschine erblüht in Birnam etwas, das er verloren glaubte. Er fand einen Anfang, aber auch ein Ende. Wieder die Flasche.

Meinungen

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