Welch ein audiovisueller Kraftakt sich da doch entfaltet, speziell bei der neuen Blu-Ray-Fassung von Bildstörung, wenn man sich Alejandro Jodorowskys Mammutwerk von 1973 zu Gemüte führt. Und wie hoch der Film trotz seiner relativen Unzugänglichkeit (speziell im deutschen Sprachraum) doch seit jeher gehandelt wird: Er sei ein Kultklassiker, ein Trip, ein Symbol-beladener Wahnwitz. Alles hat seine Richtigkeit, jener Sonderstatus ist durchaus verdient. Doch neben der gestalterischen Übermacht muss man sich auch irgendwann berechtigte Fragen dazu stellen – was hat dieses Werk auf sich, warum ist es so berüchtigt … schlicht und ergreifend: Worum geht es? Eine allumfassende Aufklärung dürfte sich schwierig gestalten, so faszinierend und zugleich sperrig Jodorowsky seine Arbeit doch wohlweislich für die Leinwand kreiert hat. Auf vieles im Film lässt sich anhand gewisser Elemente hindeuten, auf einen abgeschlossenen Narrativ letztendlich eher weniger – seine Wirkungsfunktion erscheint open-end.

Dabei fängt jener „Heilige Berg“ doch am ehesten so an, wie man sich eine logische Fortsetzung von Jodorowskys „El Topo“ (1970) vorstellen könnte: Ein Jesus-artiger Vagabund wird von einem ebenso verstoßenen, kleinwüchsigen Krüppel aufgelesen und durch eine Stadt in Mexiko geführt, die trotz ihrer Entfremdung von Zeit und Raum als nihilistisch-morbide Freakshow stilisiert wird. Mit dem Tod, dem Sex, der Religion und wahllosen, doch prägnanten Symbolen jeder Art wird vergnügt und bedenkenlos herumgespielt, während die maskierten Militär(?)-Truppen mit Lammkadavern am Kreuz durch die Straßen marschieren. Soweit ist es mit der Welt gekommen. Die daraus folgende bezeichnende Schaubuden-Inszenierung der Eroberung Mexikos durch christliche Konquistadoren – anhand von kostümierten Kröten – gestaltet sich dann auch kaum als Gefecht, eher als zielloses Gekröse, welches ausschließlich Blutfluten und Explosionen hervorruft.

Dieser gesamte Ort stellt scheinbar eine schwer überschaubare, bizarre Karikatur der damaligen Ära, den 1970er Jahren dar, welche in ihrem Überschwang ebenso ziellos nach allen Seiten ausschlug wie jenes Szenario in Jodorowskys Vision einer anarchischen Extreme, welche dennoch stets von totalitärer Hand unterdrückt und terminiert wird. Das Leiden und der Irrwitz sind allgegenwärtig, doch die Masse ist zu verwöhnt und planlos, um eine Veränderung an sich selbst und an ihrem System auszuüben. Dafür sorgt auch die endlose Massenproduktion aller ablenkender und doch beherrschender Lebensfaktoren, welche diese Haltung bis zur Besinnungslosigkeit fördern: religiöse Markenzeichen, Waffen (für den Frieden oder auch als Spielzeuge/Propaganda), erotische Kunst, künstliche Erotik, Drogen und Technik.

Unser Vagabund, schlicht der Dieb (Horácio Salinas) genannt, kann diese pervertierte Konsumabhängigkeit nicht ertragen, sucht die Wiederauferstehung des aufrichtigen Glaubens, erntet dafür aber nur Verachtung, selbst von den inzwischen ausgeblichen-vulgären Kirchenvertretern. Wie so oft bei Jodorowsky sehen lediglich die Gottlosen, die Huren und Verstümmelten in ihm einen Strahl der Hoffnung. Und so gelangt er auf ihrem gemeinsamen Weg zu einem monolithischen Turm, dem kontinuierlich Götzenopfer erbracht werden. Innen haust nämlich ein gewisser Alchemist (Jodorowsky selbst), welcher in seinem verschrobenen, plastisch-bunten Garten Eden zwar eine gottgleiche Statur einnimmt, jedoch in seinen Werten, Weisheiten und Fähigkeiten allerlei Religionen und Mythologien in einen Topf wirft, quasi als Ganzes sieht. Seinem Eindringling bietet er sogleich eine gewisse Erleuchtung an, speziell die Nutzung spiritueller und metaphysischer Fähigkeiten, mit denen er unter anderem Scheiße in Gold verwandeln kann.

Die menschliche Seele an sich ist theoretisch ohnehin zu Höherem berufen, jedenfalls was diesen Auserwählten betrifft, dem sodann seine acht Verbündeten in episodenhafter Form vorgestellt werden. Diese repräsentieren seit jeher wirkende Instrumente in der Hierarchie menschlicher Verhältnisse – Waffenhändler, Künstler, Finanziers, Henker, Architekten, Schönheitschirurgen: Sie alle dienen den erbarmungslosen Machthabern, zudem ihrer eigenen Habgier und dem Prestige ihrer gesellschaftlichen Position. Ebenso verwalten sie den Kommerz in Fließbandarbeit, um den Exzess der Menschheit zu forcieren, sprich den individuellen Untergang salonfähig zu machen. Sie schrecken aber auch nicht davor zurück, Millionen an Kunden auszulöschen, auf kleinsten Boden für ausreichend Platz zusammenzurotten oder zu fatalen Testzwecken in willenlose Bestien, Opfer und Objekte zu verwandeln, um der eigenen Selbstgefälligkeit und maßlosen Geilheit ein willkürliches Ventil anzubieten.

Nun werden diese Persönlichkeiten also zusammengestellt und auserkoren, den Heiligen Berg – eine mystische Instanz aus vielerlei Theologien – ausfindig zu machen, um mit seiner universellen Kraft Unsterblichkeit zu erlangen. Der Weg dorthin wird zur Entsagungs-reichen Probe für alle: das ganze Geld, jedwede Besitztümer und auch die gesellschaftlichen Abbilder / selbstdarstellerischen Hüllen müssen verbrannt werden. Im vielfältigen Areal der regelfreien Natur – umschlungen von grobem Bildkorn und obskuren, weisen Einzelgängern – gilt es sodann Rituale zu meistern, welche die Seele von allen irdischen Verzerrungen, Sorgen, Nöten und Neigungen bereinigen, sowie die Sinne ins Übernatürliche verschärfen. Ebenfalls auf dem Stundenplan: Das Abweisen falscher Propheten innerhalb zwischenlagernder Dimensionen und das intensiv-haltlose Visualisieren ausgefallenster Todesarten zur Abstumpfung normalsterblicher Ängste.

Am Gipfel angekommen, sprengt der Alchemist jedoch die vierte Wand – Jodorowsky ist insofern nicht nur der göttliche Guru als auftretender Rollentypus, sondern auch das Mastermind hinter allem Geschehenen und allen filmischen Verrücktheiten, die wir seit knapp zwei Stunden Laufzeit zusammen mit seiner Truppe zwar erlebt, aber nur bedingt in kohärenter Vermittlung erfasst haben. Einen formvollendeten Abgang verweigert er ebenso, macht jedoch eine entschiedene Ansage, dass wir und seine Jünger mit dem neuen, hier erlernten Wissen und gereinigten Geistern in die reale Welt herausschreiten sollen, um selbst für Veränderungen zu sorgen. Wir sind jetzt schließlich unsere eigenen Meister – die Frage ist nur, ob wir tatsächlich was gelernt haben.

Die omnipräsente Magie der Bilder schafft es nämlich durchweg, unsere Sinne so zu überwältigen, dass wir kaum Gelegenheit bekommen, uns an ihnen festzuhalten. Ein atemberaubendes Tempo legt der Alchemist Jodorowsky dabei vor, strömt mit der Opulenz eines David Lean und dem Wahnsinn eines Salvador Dalí pausenlos Eindrücke ins Hirn, die für sich alleine, Frame by Frame, schon atemberaubende Stillleben aufzeigen. Da entstehen detailbesessene Räumlichkeiten, die sich mit Farben, Formen, nackten Körpern jeden Geschlechts, exotischen Tieren und ausgefallenen Winkeln zu einem berauschend-hypnotisierenden Ganzen ergeben. Diese werden aber auch bis zum Rand mit grotesken Obszönitäten, megalomanischen Apparaten und Massen an bunt verkleideten und geschundenen Statisten angefüllt, während Unmengen an Fleisch, vielfarbigen Blutspritzern, Rauch und zerfetztem Getier über sie hinwegfegen.

Regisseur Jodorowsky überzeichnet also mit ebenso maßlosem Ehrgeiz jene bitterböse und tragikomische Weltvariante, an der er die ewig gleichen Machtverhältnisse der globalen Menschlich- und Ungerechtigkeit feststellt, mit grellen Farben einsprüht und mit pikantesten Kostümen und Frisuren einhüllt – wohlgemerkt in formatfüllendem Cinemascope. Seine bewusst-alogische Suche nach dem Heiligen Berg wird dabei schnell zum überlaufenden Quell kritischer, surrealer Symboliken eines gar-nicht-mal-so-unterschwelligen Faschismus sowie psychedelischer Befreier-Anleitungen, die scheinbar nie so recht wissen, wo sie überhaupt anfangen sollen, um den Schmerz des Planeten zu lindern.

Ein schöpferisch-extrovertiertes, narrativ-ausuferndes Enigma ist die Folge und stellt natürlich nochmals das Rätsel Jodorowsky infrage: Ist er ein idealistisch-satirischer Weltverbesserer auf LSD? Ein Advokat geistlicher Erlösung in gestalterischer Ekstase? Oder ein heimlicher Scharlatan mit einer Affinität für außerordentlich provokante, doch genüssliche Optiken? Welche Antwort man auch immer für sich selbst auserwählt: Bei diesem seinen überbordenden Trip zum „Heiligen Berg“ ist nun mal jede Interpretation möglich und sinnig. Wer kann schon sagen, welche die richtige ist oder worauf das Werk insgesamt hinausläuft? Vielleicht müssen solche Fragen gar nicht beantwortet werden. Jene wunderliche Reise überhaupt zu unternehmen und zu erleben, ist nämlich schon ein Kraftakt an sich, der in der Filmgeschichte seinesgleichen sucht.

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