Zuerst rattert der Zug durch einen schneidenden, bibbernden Winter. Dann Blut, Entsetzen und ein Schrei, der in einer weißen Dampfwolke verhallt. Der Zug rauscht weiter, verschluckt wird er von einer Landschaft aus Eis und Todeskälte. Der Epilog dieses Films, eine Literaturadaption der persönlichen Erinnerungssammlung Markus Zusak, veröffentlicht unter dem Titel „Die Bücherdiebin“, ist in seinem symbolisch allenfalls geschwollenen Formalismus quasi der Miniaturausschnitt jener Inszenierungstaktik, die Brian Percivals aufbereitete Leinwandübersetzung für mehr als zwei lange, unbequeme, ja überlange Stunden vorantreibt. Es ist ein Ringen mit der Aufmerksamkeit, ein Schütteln, Betteln, Beten um mit Pinselschwung breitgemalte Sentimentalität und monumentale Gefühlsabstufungen im Angesicht der Katastrophe, die sonst im schalen Vormittagsprogramm höchstens einen Talkshowgast dazu verleitet, den Saal beleidigt zu verlassen.

Die Hakenkreuzfahnen flattern nebenbei geschmeidig, sie füllen den Hintergrund wie Karnevalsschmuck und fungieren als Überblendung in eine fragwürdige Nahaufnahme, dazu unzählige atmosphärisch begrenzt unterstützende, künstlich dafür mehr als unterstützende Farbfilter, und während der Kristallnacht zerstören Nazis Fenster. Zeitlupenartig. Adrett. Irgendwie schön und billig. Denn „Die Bücherdiebin“, das sollte gewiss sein, betont, umschmeichelt, liebkost einen bildimposanten Ästhetizismus im Nationalsozialismus, mit dem ähnlich historisch gelagerte Filme zu gern scheitern. Die Schrecken des Krieges folgerichtig banalisierend, bedeckt und erdrückt der Film wie seine Dampfwolke zu Beginn jeden humanitären, jeden ambivalenten Unterton und reduziert ihn aufs Weinerliche, politisch Unangreifbare, aufs Mythenbestätigende und schlicht Konservenhafte. Eine gezwungene Heiterkeit durchströmt Percivals Kitschkriegskinderei, die jedes Gefühl von Geschichte, Zeit und Unverkrampftheit abtötet.

Geschichte möchte „Die Bücherdiebin“ offenbar aber nicht sein. Sondern Geschichtsrevisionismus. Der Film erzählt, und nicht nur das, von der heilenden Kraft der Imagination, einen klinisch Toten wiederzuerwecken. Verbotene, verbrannte Bücher klaut (borgt!) die titelgebende Liesel Memminger („Saumensch“ und Tochter einer Kommunistin), um sie einem bei ihr daheim versteckten Juden Max (Ben Schnetzer) vorzulesen. Zuvor (im Keller) selbst gelernt, Buchstaben zu (Fremd-)Wörtern zusammenzuziehen, müssen sich ihre Adoptiveltern Hubermann in einem Klima des Abschieds, Verrats und Lebensendes behaupten. Schlimm kann das alles jedoch gar nicht gewesen sein, wenn Literaturklassiker aus dem Giftschrank und unbekümmerte Akkordeonmusik abgeworfene Bomben übertönen, bevor der Bunker zum gemütlichen Plausch unter Leidensgenossen umfunktioniert wird und weiter fröhlich Fußball gespielt werden kann.

Genau das sind die Szenen, Momente tiefster, verstörendster körperlicher Zuguckbelastungen, die hieraus entnommen worden sein könnten: aus einer Nico-Hofmann-Farce (deutsch), einer Bernd-Eichinger-Historienklamotte (deutsch) oder aus mit eigenen Geldern finanziertem RTL-Eventkino (furchtbar deutsch). Dass Deutschland tatsächlich an dieser Produktion beteiligt war, bedarf keiner Überraschung. Denn des Films Stil ist das Deutsche, Verklärende, Wärmende mitten in einer Wohlfühloase. (Es sei zusätzlich angemerkt, dass eine wüste Schneeballschlacht hierbei beste Unterhaltung ist. Aber das in einem Nazi-Film?)

Als räumlich komprimiert vorgetragenes Familienpsychogramm, ohne sich den Ballast eines weiterführenden Gedankens aufbürden zu müssen, hätte „Die Bücherdiebin“ stattdessen durchaus fein schattiert die Herausforderung eines tage- und nächtelang gefährlichen Lebens untersuchen können. Dafür hat sich allerdings kaum einer interessiert, weil sich Brian Percival dazu verleitet sah, möglichst alle Massen Popcorn mampfend und Krokodilstränen vergießend, ins Kino zu locken. Entsprechend labberig geraten die schablonenhaften Handlungssegmente eines, in aller Konsequenz, adoleszenten Außenseiterrührstücks für gruselige Hausfrauennachmittage, vollgestellt mit Stereotypen, die Aufgabe um Aufgabe zu erfüllen haben und doch in das Elend abrutschen.

Darunter unbedingt einzukringeln: die herrisch-sittenstrenge, teutonische Flüche ausstoßende Mutter (Emily Watson), der verständnisvolle Ehemann und Großpapa (üblicherweise routiniert: Geoffrey Rush), der beste Freund (Nico Liersch), der tyrannischste Schulfeind (Levin Liam), der böse Bürgermeister (Rainer Bock) ebenso wie seine träumerisch dreinblickende Frau (Barbara Auer), Leseratte, Licht am Himmel und zugleich lichterloh brennende Hoffnung in Personalunion. Eine Erzählerstimme des Todes intensiviert zwar genauso wie der erstmalig enttäuschend einfältige und weniger lyrisch-melodische Score von John Williams eine Atmosphäre fragiler sozialer Stabilität. Gleichwohl sollte man sich um Liesels Überleben sowieso keine ernsthaften Sorgen machen. Denn das Apple-Logo ziert eines der letzten Bilder. Was auch sonst?

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Die Bücherdiebin“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 16.02.2017

Elle

Paul Verhoeven kehrt zum Wechselspiel der Moral in der humanistischen Rücksichtslosigkeit zurück.

Kinostart: 08.12.2016

Right Now, Wrong Then

Hong Sang-soo parodiert die Macht der Wahrnehmung, indem er sie egoistisch nacherzählt.

Kinostart: 01.12.2016

Die Hände meiner Mutter

Florian Eichinger blickt realitätsbewusst auf die Anatomie und Konsequenzen des Missbrauchs.

Kinostart: 17.11.2016

Amerikanisches Idyll

Ewan McGregors Regiedebüt bemüht nur ein vages und moralinsaures Porträt einer Radikalisierung.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.