In dieser Milieustudie von Mikio Naruse eröffnet sich ein ernüchterndes Frauenschicksal vom Zusammenbruch der Träume im Angesicht verhaltener Gesellschaftsstrukturen und menschlicher Enttäuschungen. Die erfahrene Hostesse Keiko (Hideko Takamine), im Ginza-Distrikt auch allgemein als Mama bekannt, hat sich nach dem Unfalltod ihres Mannes souverän in ihren Beruf eingelebt und entschließt sich jede Nacht zum Aufstieg der symbolischen Treppe in ihr Wirkungsfeld, bei dem sie auch mal zwischen mehreren Arbeitgebern und natürlich vielen männlichen Kunden hin- und herpendelt, ihnen einen klasse Geisha-artigen Service bietet, der von außen hin die Illusion eines ordentlichen Luxus vermittelt. Sie lebt zwar für sich selbst nicht unbedingt in Armut, aber ganz ihrem Wesen gemäß außerordentlich bescheiden – wendet das meiste Gehalt nur für die Utensilien ihres Jobs auf, stets mit den unausweichlichen Faktoren Steuern und Schulden im Nacken. Andere zerbrechen daran, wählen den Selbstmord. Ein schon früh einsetzendes Zeichen der Gefahr, das seinen Schatten auch vermeintlich über Mama ziehen dürfte. Übrigens ein kongenialer Einfall von Naruse, unsere Protagonistin im Fokus des Narrativs mit einem derartig involvierenden Namen zu betiteln.

Über allem in ihrem Dasein steht hauptsächlich die Präsenz und Macht des Mannes – er ist Kunde (=König), Gönner und folgerichtig, aber teils unabsichtlich, seelischer Erpresser. Dennoch entwirft „Die Mädchen der Ginza“ daraus kein reißerisches Gender-Melodram mit oberflächlicher Schwarz-Weiß-Zeichnung, dafür ist seine visuelle Gestaltung ja schon äußerst naturalistisch-nüchtern und auf der Tonebene allerhöchstens jazzig-entspannt, schauspielerisch sowieso immer bodenständig. Stattdessen ist Mama zum Großteil lediglich ein Opfer der (unter anderem auch von sich aus ausgelösten) Umstände und die Entscheidungsträger hinter ihrem Schicksal kaum forciert in ihren Funktionen. Denn die Frauen in diesem Film haben zwei bestimmte Optionen vor sich, was sie mit ihrer Zukunft in diesem Beruf, den sie eingeschlagen haben, anfangen können: eine eigene Bar aufbauen oder heiraten. Und an Ambition mangelt es in der Hinsicht ja gar nicht, Mama hat eben nun mal stellvertretend für ihren Berufszweig richtig viel, teils zufälliges Pech mit Männern: Bietet ihr einer das ganze Geld für ihre Bar an, zögert sie zunächst, um mehrere Investoren aus ihrem Kundenkreis zusammen zu suchen, wird aber urplötzlich für mehrere Monate durch ein Geschwür außer Gefecht gesetzt, woraufhin alle inzwischen abgesprungen beziehungsweise mit anderen das Geschäft abgeschlossen haben.

Unterbreitet ihr einer ihrer langjährigen Kunden anhand mehrerer Geschenke und Geborgenheiten einen Heiratsantrag, stellt sich dieser als bereits verheiratet heraus, wobei seine eigene Frau ihm attestiert, dass er sich schon immer vollends in seine erfundenen Geschichten reinsteigert und dadurch psychologisch keine Schuld an seinen Betrügereien hätte. Man nehme auch alleine Mamas Manager Komatsu (Tatsuya Nakadai), der sie insgeheim liebt und sich sogar als Unterstützer für die neue Bar anbietet, den sie aber letztendlich verstößt, weil er ihr Leben und ihre Karriere zu sehr vereinnahmt hat: verständlich von ihrer Seite aus, aber irgendwo auch hinderlich für ihr Glück – es ist ein glatter Teufelskreis. Dieselbe Problematik wird ihr zuteil, als sie endlich einen Kunden gefunden zu haben glaubt, der sie heiraten will und die Bar finanziert, aber ebenso nicht von seiner derzeitigen Gattin und den Kindern ablassen kann (immerhin ist er da von vornherein schon ehrlich), ihr jedoch zumindest ein paar genügend wertvolle Aktien schenkt.

Mama wird vor vielen unzureichenden Modellen der persönlichen Erfüllung gestellt, und obwohl der Film dabei subtil bleibt, überhaupt irgendjemandem die Schuld dafür zuzustecken, kann man ihren Unmut dennoch vollends verstehen. Dass sie sich letztendlich entschließt, das Geld und die Liebe zunächst auszuschlagen und wieder die Treppe zum alten Job hinaufzusteigen, ist da vielleicht noch die beste Option, die sie für sich selbst bestimmen kann. Aber im Grunde keine wirklich erleichternde – das sieht man ihr auch an. Regisseur Naruse stellt da direkt eine soziale Problematik zum Hinterfragen dar, bleibt aber objektiv und ideologisch offen in der Erfassung des zwar tristen, aber geradezu neorealistisch-unaufgeregten, durchweg menschlichen Umfelds. Empathie ist beim Zuschauer dadurch zwar gegeben, wird aber nicht erst durch einen strikten Zeigefinger dorthin geleitet – was aber auch gleichzeitig zur Folge hat, dass das Mitfühlen hier eher einen observierend-lehrsamen, denn cineastisch-erschütternden Charakter erhält und leider auch so einige Längen und Wiederholungen in der Figuren-Etablierung heraufbeschwört. Da verhält sich der Film aber auch bezeichnenderweise so unentschlossen wie seine Protagonistin und verspricht über die Laufzeit hinaus, mit seinem Portrait der unterworfenen und sich vielleicht auch selbst unterwerfenden Frau, am Ball beziehungsweise im Kopf des Zuschauers zu bleiben.

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