Eine Kontroverse, zwei Meinungen. Daher besprechen wir Christopher Nolans „Interstellar“ mit Matthew McConaughey gleich doppelt. Die Zweitkritik findet sich hier.

Die Villanella ist ein Straßenlied italienischen Ursprungs; ein Lied, welches wohl nur die Bauern im 16. Jahrhundert sangen, weil es unnachahmlich volkstümlich schien – in seiner Präzision des Freien und gleichsam streng Reglementierten in fünf Dreizeilern und einem Vierzeiler. Eine einfache Form jedoch, wie sie die Villanella innehat, wächst manchmal an ihrer Simplizität, indem sich allein der Kontext ändert. So ergeht es auch manch einem Film; besonders den Zöglingen der Science-Fiction, die den Rahmen der Realität meiden, um daraus eine fiktionalisierte Zukunft zu kreieren, welche den heute existierenden ökologischen Kollaps nutzt. Wesentlich interessanter an der Villanella ist allerdings eine ganz bestimmte – nämlich jene des walisischen Dichters Dylan Thomas mit dem Titel „Geh nicht gelassen in die gute Nacht“. Diese nämlich rezitiert Michael Caine mehrmals in Christopher Nolans „Interstellar“, obwohl sie die Verzweiflung, den Verlust von Gesundheit und Kraft eines Menschen schildert und nicht das Sterben einer ganzen Welt, das Sterben der Erde, der Menschen. In der Interpretation meint Thomas’ freilich auch: peitschende Sandstürme und brennende Erntefelder, Staub in den Lungen und Aussichtslosigkeit im Herzen. Also reanimiert Nolan zugleich den Dust Bowl, die Wirtschaftskrise, indische Überwachungsdrohnen, Pioniergeist und Schöpfungssyndrom. Nur nochmals irgendwann im 21. Jahrhundert. Wie ambitioniert, steril, metaphysisch, interpretationsbefreit.

Drei Akte hat „Interstellar“ mit der Villanella zudem ebenso gemein wie deren Sinn für Redundanz, Emotionalität und familiäre Bande – was etwaigen Pathos inkludiert. Nach der Exposition auf Erden folgt die Reise ins All, dann die Erlösung in neuen Welten. Es geht schließlich um einen Farmer, der seine Familie und zumindest eine Generation der Menschheit retten möchte, dass sie auf Erden behütet aufwachsen, arbeiten, sterben kann. Der Farmer aber war eigentlich Pilot der NASA, der amerikanischen Luft- und Raumfahrtbehörde, bis die Regierung entschied, jedwede Fördermittel für Flüge zu streichen und besser in den Anbau von überlebensnotwendigen Pflanzen zu investieren. Daher ist der Pilot nun Landwirt, seine Berufung der Mais, seine Sorge der alternde Schwiegervater sowie die zwei Kinder, Tom und Murph. Wenn er, der Mann namens Cooper (Matthew McConaughey), jedoch in den Himmel blickt, dann blickt er noch immer in die Sterne – eine Metapher für die hoffnungsfrohe Zukunft. Wie ein neuer Augenaufschlag, der die Welt des dystopischen Klimawandels regeneriert zu einer futuristischen Entwicklung bislang unbekannter Dimensionen. Dass dieser Pilot somit schlecht Farmer bleiben kann, erklären Jonathan und Christopher Nolan mit Bay’scher Selbstverständlichkeit und einer Portion Suspension of Disbelief. Es folgt wahrhaft der Blick in die Sterne – nach einer zunächst grotesken (und später elliptischen) Fügung, welche den Mann mittels eines Binärcodes in den geheimen Reststützpunkt der NASA lotst.

Fortan lebt Christopher Nolan die Suche nach einer Zweit- respektive Neuexistenz auf einem fremden Planeten aus, noch dazu fern unseres Sonnensystems, fern organischer Lebensbedingungen, in den Gezeiten des einmal flüssigen, einmal erkalteten Wassers, durch Wurmlöcher und Gravitationsanomalien. „Interstellar“ könnte nun dort endlich die Mystik des Universums begreifen, er könnte suchen nach theoretischen und explorativen Offenbarungen, nach einem Anfang und einem Ende des Menschen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Nur interessiert Nolan nicht, was bereits Stanley Kubrick in „2001: Odyssee im Weltraum“ interessierte: weder die Ouvertüre noch die Pause. Sondern der Rausch des Unbegreiflichen, welcher sich im modernen, tumben Blockbuster gerne als Sensationalismus tarnt. Selbst der Blick in die Sterne aber gleicht hier keiner Sensation; er ist nicht atem-, end- oder schwerelos – weil er sich in der Position des physikalisch Konkreten gefällt, soweit die Naturwissenschaften in jenen Theorien überhaupt konkret sein können. Wie ein jeder Nolan klärt er auf über das Unerklärliche, bis es keinen Platz mehr für philosophische Thesen gibt, außer in den Löchern der Ausführung, die entgegen des Kubrick’schen Perfektionismus keinen Raum und entgegen Spielberg’scher Leichtfüßigkeit keine Freude zeugen. Dabei sollte der Blick in die Sterne doch durch das Visuelle läutern, zweifeln, beben, ängsteln lassen. Warum nur staunen wir in der kosmischen Impression nicht, warum nur zeigt Bildgestalter Hoyte Van Hoytema den Weltraum so nüchtern wie die Maisfelder auf Erden? Ist dies noch Entdeckung oder schlicht banale Tatsachenfindung?

„Interstellar“ gleicht darin „Inception“, der Astronaut Cooper dem Gedanken- und Traumdieb Cobb. Alle folgen sie der Manipulation des Marionettenspielers und Regisseurs, hin zu einem übergeordneten Selbstzweck, der aus Hans Zimmers Pfeifenorgeln und synthetischen Streicherarrangements drängt und weiterhin Monologe und Dialoge in die zentrifugale Ohnmacht zwingt. Natürlich existiert die Gigantonomie auch wieder in „Interstellar“; vermutlich wie der existenzielle Schöpfungsdrang Nolans, bei dem es nur große, mächtige Ideen gibt, aber die kleinen irgendwann untergehen. Der Plan des von Michael Caine verkörperten Professor Brand ist so einer, weil er zwei Varianten schafft: So geht Plan A von einer Umsiedlung der bisherigen Erdenbevölkerung aus, Plan B von einer gänzlich neuen Schöpfung des Menschen, während die Völker auf der Erde ihrem Tod überlassen werden. Eine Welt ohne den Menschen aber scheint unvorstellbar, steht niemals zur Debatte. Immerzu rotiert Nolan um die Emotion der Zurücklassenden und der Zurückgelassenen, des Vaters und der Tochter. Er blickt nicht in die Sterne, er blickt in ihre Augen und brennt nach dem Verlust in Dylan Thomas’ Villanella, der nie eintritt. Stattdessen hätte der Film folgende Frage stellen sollen: Warum überhaupt verdient der Mensch ein weiteres Leben auf einem neuen Planeten? Vermutlich aber wäre es dann um einen Gott gegangen, der im Universum des Christopher Nolan niemals existieren könnte. Ein Gott nämlich, der würde – in welchem Konzept auch immer – eine Interpretation beeinhalten, doch keine Lösung.

Meinungen

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