Eine Kontroverse, zwei Meinungen. Daher besprechen wir Gaspar Noés „Love“ mit Karl Glusman gleich doppelt. Eine negative Zweitkritik findet sich hier.
Selten unermüdlicher zwängte Gaspar Noé eine Figur hinter Gittern wie in „Love“, dem neuen Gaspar-Noé-Skandalschocker, dem neuen Giftschrankfilm schlechthin, dessen Poster an der abgesperrten Kinoaushängewand (Zutritt: ab Achtzehn) zwei zungenküssende Mädels zeigt. Oder, folglich, eine ejakulierende Peniseichel. In sinnlichen Fleischesfarben. Ab zur Prüfungskommission! Murphy, halbroh gedrosselt von Karl Glusman, wird von dem französischen Enfant terrible in ein quadratisch-knallenges Schlafzimmer verfrachtet. Dort bleibt er auf der ersten Ebene der Erzählung für den Rest der Laufzeit eingesperrt und brütet über heiße Erinnerungen und süße Verdienste erotischer Annehmlichkeiten zu dritt, die eine Utopie versprachen, aber eine Dystopie gebaren – während sich um ihn herum die Zeit zersplittert. Das asketische Konzept kokettiert dabei mit jenen inneren Empfindungen, Murphy zwischen den Wänden distanziert zu beobachten. Die Wände begrenzen ihn, scheinen sich auf ihn zuzubewegen, engen ihn nicht minder ein. Murphy ist als Objektdekoration in einem Käfig an das Jetzt gekettet. Damit zusammenfallend weicht Noé zurück – vielleicht ist „Love“ in diesem Sinne sein gesetztester Film, einer, der zentralperspektivisch statt flirrend die Lufthoheit verlangt, sich mit dem Körper transzendent zu verbinden. Nach „Irreversibel“ (zeitchaotisch) und „Enter the Void“ (gar formlos) protegiert „Love“ wieder Struktur, Ordnung, Form, schöpft Klarheit denn Verwässerung, wildert in der Rigorosität des Zeigens, wo stets Flüchtigkeit war.
Obwohl, selbstverständlich, Noé zweifelsohne nicht davon ablassen kann, erzählkonsistente Tableaus bis zur Abstraktion, bis zur Ermüdung zu wiederholen. Diesem Stil hängt er nach wie vor an. Dementsprechend konsequent walzt Noé die halbpornografischen Sexarien aus, die melodisch das narrative Feingefühl stückeln, auf dem der Film eine klassische Ménage à trois fundamentiert. Des Films zyklisch durchgearbeiteter Fundus an „sentimentaler Sexualität“, die Murphy, ein selbst ernannter Regisseur, vom Kino einfordert (und spricht damit aus ihm nicht Gaspar Noé selber, der einen Film anging, der ein Zeichen setzt?), erstreckt sich über alle Variationen pulsierender Luststeigerung und zugleich, ja letztlich resignierender Befriedigung. Sein randvoll mit organischer Schönheit gefülltes Fleischespsychogramm „Love“ windet sich durch die Schichten des Begehrens als Teilgebiet der Liebe, bei dem der Mensch sich vereinigt zum zarten, amorphen Wesen der Vielgestaltigkeit. Szenenweise, bei einem mehrminütigen Dreier oder einer vaginalen Hochstimmung im Bett, findet Noé abschnittsweise ein prächtig sakrales Stillleben skulptural herausgebrochener Ermattung. Die müßig agierenden Darsteller seiner archetypischen Geschichte (ein verbrauchter Merksatz: Träume affirmieren lediglich die triste Gegenwart, bis sie von eben dieser eingeholt werden) erstarren so zum Sinnlichkeitszentrum. „Love“ neutralisiert „Irreversibel“ und „Enter the Void“ entscheidend: Fragile Poesie übermannt den durchgepeitschten Schmerz des Unfasslichen.
Außerdem, wer hätte dies jemals zu denken gewagt, darf ein Gaspar-Noé-Skandalschocker jetzt auch lustig sein! Das Aufstöhnen ob eines geplatzten Kondoms sowie, zum Beispiel, ein minutiös florierender Beziehungsstreit auf der Taxirückbank (typisch: in einer Einstellung) verschaffen „Love“ trotz aller sexuellen Schwere und gedanklichen Depression (Liebe als von vibrierenden Musiktakten umgarntes Schlachtfeld eben) ein Auflodern von gefälliger Ironie. Diese markiert den Beginn der künstlerischen Umorientierung Noés, der jedoch dauernd zu sich (zurück-)findet, zu seinem verknüpfenden Gestaltungswillen, zu seinem Größenwahn, ein leidenschaftlicher Künstler zu sein, der dampfplaudert: eine Miniaturausgabe des Liebeshotels aus „Enter the Void“, ein Baby namens Gaspar, die schmalphilosophische Off-Kommentierung, stroboskopischer Partykoitus und Samenbespritzung in 3D (ein, zugegeben, anmaßender, aber in seiner kindisch-finsteren Freude entzückender Streich und klar der übermütigste Einfall des Kinojahres). Auch wenn „Love“ sich zu keinem Politikum wie „Nymphomaniac“ aufbläht und den Weg zur gesellschaftlichen Breite versperrt, erforscht Noé mit dem ihm eigenen spontanen Fanatismus ätherischer und barriereloser Bilder den Bauplan des Seins, der oft einen brüchigen Eindruck aussendet, wenn wir uns fragen, ob es neben der unsrigen, der gegenwärtigen, noch andere Dimensionen kategorisierbarer Erfüllung gibt – über uns, im Raum ohne Wände, womöglich in der Zeit, ganz bestimmt in der tragischen Liebe.
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