Martin Luther King zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Sein aktiver Einsatz gegen Rassismus und Rassentrennung, seine Visionen für die Vereinigten Staaten, die nicht bloß Träume bleiben sollten, sein Kampf für die Menschlichkeit als Bürgerrechtler und gleichzeitig als Baptist: Diese mutigen Leistungen wurden 1964 mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt – und mit einem Attentat im Jahr 1968 bestraft. Bisher gab es außer Sidney Lumets Dokumentarfilm „Dann war mein Leben nicht umsonst“ (1970) allerdings keinen wirklichen Referenzfilm, der sich entweder Kings Leben biografisch näherte oder die Errungenschaften der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in einen Spielfilm verwandelte. Jetzt bringt Ava DuVernay den semibiografischen, ganz und gar nicht unwichtigen „Selma“ auf die Leinwand, der sich auf die Zeitspanne zwischen 1964 und 1968 bezieht und vor allem die Selma-nach-Montgomery-Märsche thematisiert.

Für ihren zweiten Film, „Middle of Nowhere“, gewann DuVernay 2011 als erste afroamerikanische Frau den Preis für die Beste Regie beim Sundance Film Festival; mit „Selma“ war sie dann die erste Schwarze, die bei den Golden Globes als beste Regisseurin nominiert wurde. Bei den diesjährigen Oscars könnte sie zudem als Produzentin ausgezeichnet werden, da „Selma“ als Bester Film nominiert ist. Letztes Jahr gewann Steve McQueens „12 Years a Slave“ diesen prestigeträchtigen Preis als erster Film, der von einem Afroamerikaner gedreht wurde. Rassismus ist in den USA noch immer ein sehr spezielles Thema. Aber im Jahre 2015 hat es zumindest den Anschein, dass Martin Luther Kings sowie Malcolm X’ Reden Früchte getragen haben – auch wenn man sicher nicht von einer vorurteilsfreien Gleichberechtigung sprechen kann. DuVernay wurde nach eigener Aussage durch die Werke der Regisseure Charles Burnett, Julie Dash und Haile Gerima inspiriert, die wichtige Beiträge leisteten, dass Menschen wie McQueen oder DuVernay derartige Erfolge verzeichnen konnten. Die Welt im Wandel der Zeit.

David Oyelowo verkörpert Martin Luther King hier äußerst bravourös, obwohl er sicherlich keine leichte Rolle spielt. Denn eine Performance, die einem der größten Rhetoriker gerecht werden soll, verlangt dieselbe emotionale Teilnahme, um authentisch zu wirken. Man darf nicht vergessen, dass die partielle Überwindung des Rassenproblems in Kings Fall vom Christentum ausging, der durch die Lehren der Bibel auf cleverste Art eine Basis für eine funktionierende Demokratie schaffen wollte, in der Schwarze und Weiße auf gleicher Ebene stehen. Dabei spielte vor allem das Wahlrecht eine bedeutende Rolle, das nur einem Bruchteil der Schwarzen zugestanden wurde. Dass der friedliche Aufstand gerade im Süden erfolgte, war der entscheidende Grund für eine amerikanische Veränderung: King, der aus Atlanta, Alabama, stammte, traf sich mit Andrew Young, James Orange, Ralph Abernathy und Diane Nash. Die Southern Christian Leadership Conference, bei der King Präsident war, versammelte sich und organisierte die angesprochenen Märsche, welche samt der grausamen Gewalt durch die Ordnungshüter im Fernsehen übertragen wurden und daher zu kontroversen Diskussionen führten.

Im Film wird dies spannend erzählt. Eins muss man dabei kritisieren: Die Marschierenden werden zusammengeschlagen und teilweise von Pferden überrannt, während sich dies etliche Menschen im Fernsehen anschauen – jedoch wird zu keiner Sekunde ein einziger Kameramann in Szene gesetzt, dessen Bilder für höchste mediale Aufmerksamkeit sorgten. Dadurch wirken die „gestellten“ Szenen zwar brutal, aber zu konstruiert. Dass es sich hierbei um keinen Dokumentarfilm handelt, ist natürlich vorauszusetzen. Die Stärke von „Selma“ liegt bezeichnenderweise zum einen in der Inszenierung der Gräueltaten, zum anderen aber auch in der filmischen Betrachtung Kings und insbesondere seiner agitierenden Reden. Die Einbeziehung der Journalisten gelingt jedoch nicht einwandfrei. Historiker kritisieren dazu die verfälschte Darstellung des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson, gespielt von Tom Wilkinson, der viel deutlicher an der Umsetzung der von King geforderten Gesetzesänderungen beteiligt gewesen sein soll, was im Film erst gegen Ende etwas abrupt und plötzlich zutrifft.

Dennoch besticht Ava DuVernays Werk durch eine kluge Auswahl an Zeitgeschehen, aber auch Schauspielern. Die Kamera fängt die impulsive, aber dennoch friedliche Atmosphäre der Demonstranten gelungen ein, die wenigen Augenblicke des Schreckens komplettieren die Geschichte sinnvoll und gipfeln löblicherweise nicht im Attentat des Helden, sondern in einer emotionalen Anteilnahme des Zuschauers.

Meinungen

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