Suburra nannte man im antiken Rom ein Stadtviertel, das vor allem von Armen bewohnt wurde und von organisierter Prostitution bestimmt war. Unter der Stadt, unter der Hand. Angelehnt an dieses konnotierte Viertel schrieb Giancarlo De Cataldo einen Roman über das heutige mafiöse Kraftwerk von Rom, Stefano Sollima, bekannt für die Serie „Gomorrha“, verfilmte diesen 2015. „Suburra“ ist ein dunkler, kompromissloser und spannender Thriller, der von Anfang an Fahrt aufnimmt und über zwei Stunden großes Actionkino zeigt. Durch die Reihe sind alle Schauspieler so realistisch, dass man die dargestellte Fiktion, die von vielen brutalen Ereignissen aus der jüngeren Vergangenheit Italiens inspiriert ist, für die Wirklichkeit halten könnte. Einzig der famose Soundtrack des französischen Duos M83 sorgt im düsteren Realitätsentzug für elektronisches Trancegefühl.

Ein Mann in Rom dient als Vermittler zwischen den mafiösen Strukturen aus dem Süden und der Hauptstadt: der „Samurai“ (Claudio Amendola). Er ist wie eine Mischung aus allen Spielfiguren eines Schachbretts, er weiß alles, er kann alles, er macht alles. Seine Fäden sollen in Ostia ein italienisches Las Vegas erschaffen. Die Mafia forciert die Verabschiedung eines Gesetzes, das den Bau begünstigt, was sie durch Verbindungen zur Politik und den mächtigen Clans erreichen will. Doch „Suburra“ wäre nicht spannend, wenn diese Pläne nicht durch Einzelentscheidungen wichtiger Stützpunkte für das Projekt durchkreuzt werden würden. Sollima generiert einen fantastischen Sog aus persönlichen Konflikten: Machtansprüche, Rache, Drogenabhängigkeit, Geldnot, Suizid und Verrat. Auch die Sorge um die eigene Familie lässt Zwickmühlen entstehen; immer sind es zwei bewaffnete Seiten, die miteinander konkurrieren. Häufig haben sie aber einen gemeinsamen Freund – den Samurai. Er scheint unantastbar zu sein, seine Entscheidungen prägen die kriminelle, aber auch geistliche Welt Roms. Wer sich gegen ihn stellt, wird ermordet. Und das gilt nicht nur für Freunde der Mafia, sondern auch für den Vatikan.

Sollimas Film ist unglaublich laut – und das nicht nur wegen Musik und Ton, sondern weil es kaum ruhige Szenen gibt, kaum eine Sequenz, in der nicht Blut fließt oder ein Kampfhund die Luft zerfleischt. Dessen Besitzer Manfredi Anacleti (Adamo Dionisi), Anführer des ungeliebten Gypsy-Klans, ist ein Abartiger, der in seiner ersten Szene rohe Schweinebeine auseinander spreizt und reißt, während er vom Sohn eines verstorbenen „Mitarbeiters“ alles Hab und Gut abverlangt. Es regnet gefühlt den gesamten Film hindurch unter Strömen – ein ungewohntes Bild des sonnenverwöhnten Roms. Die zwielichtige, aber zugleich wunderschöne Atmosphäre der römischen Nacht findet in „Suburra“ ein würdiges Porträt. Das Fehlen der Polizisten, die Sollima vollkommen aus der Verfilmung der Buchvorlage gestrichen hat, stört dabei nicht, weil er umso mehr betont, dass die Machtspiele zwischen den Clans ausgetragen werden und nicht von einer staatlichen Verfolgung abhängig sind. Daher ist seine Darstellung sogar eine willkommene Abwechslung zu konventionellen Mafia-Thrillern, in der die Polizei meist nur hinterher hängt oder eine nicht realistische Heldenfigur einnimmt.

Sollima zögert außerdem nicht, nackte Haut zu zeigen. Mehrere Hauptdarsteller werden samt erkennbaren Genitalien vor die Kamera gestellt; Sex und Drogenkonsum inklusive. „Suburra“ ist ein harter Film und will sich das Prädikat nicht nur wegen einer Szene verdienen. Solch perfekte Choreografien sieht man selten, gerade in der heutigen Zeit der sinnlosen Verstümmelung und Logiklöcher – die Ästhetik steht zwar im Vordergrund, doch sie wird von den tadellosen Schauspielleistungen, dem Soundtrack und vor allem dem sehr treibenden Wechselspiel aus Suspense und Drive entscheidend unterstützt. Dabei spitzt sich der Gesamtkonflikt durch die einzelnen Konflikte energisch zu. Wie in einem Rausch fliegen Kugeln und Fäuste, eine kurze, aber herausragende Verfolgungsjagd zeigt „The Fast and the Furious“-Fans, wie so etwas sehenswert umgesetzt werden kann. Natürlich ist dabei das Spiel mit den Klischees riesig, Schauspielerin Greta Scarano betonte nach der Premiere die Hyperrealität, die aber sehr wohl als Kritik zu verstehen sei. Daher bietet der Film neben gewohnten Einblicken in die viel besprochene italienische Kriminalkultur keine Sympathie mit der Mafia oder deren Ambitionen. Dies ist jedoch nicht neu: Kollegen wie Matteo Garrone und Sollimas eigene Serie „Gomorrha“ schießen auf die italienischen Strukturen aus einer berechtigen Verzweiflung, wie man dieses angesprochene Kraftwerk, dessen Tentakel bis in die Unendlichkeit reichen, endlich überwinden kann – dennoch ist ein weiterer Beitrag dieser Rubrik mehr als erwünscht und im Falle von „Suburra“ unabdingbar.

Meinungen

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