Zum dritten Mal in diesem Jahr darf ein Marvel-Produkt für die Leinwand besprochen werden und bis jetzt scheint es das gelungenste in der Blockbuster-Saison 2014 zu sein, jedoch wie immer nicht ohne gewisse Einschränkungen. So vertraut „X-Men: Zukunft ist Vergangenheit“ auf eine Zuschauer-Gemeinde, die sich mit der Materie vergangener Leinwandabenteuer auskennt (eine Vorkenntnis von ganzen sechs Filmen ist mehr oder weniger Voraussetzung) und die jeweiligen Charakterisierungen aller Figuren sowie jedwede Handlungsstränge verinnerlicht hat. Schließlich wird hier ein Event-Film entfacht, der relativ schnell zur Sache kommt und innerhalb von knapp über zwei Stunden Laufzeit keinen entlastenden Hohlraum schaffen möchte.

Regisseur Bryan Singer schafft es dennoch, das komplexe Konstrukt seiner Mutantenstolz-Saga, zudem verbunden mit extensiven Zeitreise-Passagen, flott und verständlich unter einen Hut zu bringen, Action und Emotion im nachvollziehbaren Narrativ stimmig abzugleichen – durchweg mit einer visuell-frischen Dynamik, wenn auch teilweise allzu stark durchsetzt von einem Handlungs-fokussierten Expositionsdrang, der eine gute Weile braucht, bis dieser tatsächlich auch auf die handelnden Charaktere abfärbt. Zusätzlich dazu wird auch eine ganze Bande neuer X-Männer und -Damen vorgestellt, wenn auch eher im Rahmen unterstützender Résistance-Genossen, die im Zuge des Sentinel-Programms der Trask-Industries, angeführt von Dr. Bolivar Trask (Peter Dinklage), seit den 1970ern verfolgt und interniert/ausgelöscht werden (eine schön-simple visuelle Metapher darauf findet sich in jener Szene, als Trask & Begleitung in einen Besprechungsraum eintreten, dessen Tür von einem französischen Revolutions-Gemälde umfasst ist). Die Holocaust-Parallele versteht sich da von selbst, ist bei den X-Men-Filmen ja seit jeher Teil der Ikonographie – hier wird jedoch erstmals direkt ausgespielt, was Professor Charles Xavier (Patrick Stewart) und Konsorten ständig befürchtet haben.

Drum muss ein metaphysischer Zeitsprung her und wer eignet sich besser dafür, als das Box-Office-Aushängeschild Wolverine (Hugh Jackman)? Dank den Zeit und Raum teleportierenden Kräften Kitty Prydes (Ellen Page) reist sein Gewissen zurück in die 1970er Jahre und ab dort gestaltet sich der Film zunächst, nach seinem finsteren Anfangsmomenten in der futuristischen Apokalypse, als genüssliches Period-Abenteuer mit Heist-Geist, nicht unähnlich dem dritten „Men In Black“ von 2012, das darauf hinarbeitet, die alte Gang für eine historische Wende wieder zusammenzubringen – unter anderem mithilfe des Neuzugangs Quicksilver (Evan Peters), dessen gewitzte Kräfte eines der größten Highlights im Film darstellt und Lust auf mehr macht. Doch auch in diesen Reihen gibt es, klassischen Dramaturgien entsprechend, den Zurückgezogenen, dessen innerliches Comeback wieder heraufbeschworen werden muss: ausgerechnet der junge Xavier (James McAvoy) hat seine Kräfte aufgegeben, injiziert sich wie ein Junkie mit einem Mutations-hemmenden Serum, um Verantwortungen und Herausforderungen aus dem Weg zu gehen – da ist mächtig Motivation von Nöten, auch von seinem zukünftigen Ich, um jene Persönlichkeits-zersetzenden Drogen aufzugeben (siehe dazu auch die South-Park-Episode „Mein Zukunfts-Ich und Ich“).

Sein Charakter erhält insofern eine Intervention, um wieder clean zu werden, sein wahres Wesen zu präsentieren und eine zweite Chance zu erfassen. Dies wird dann schließlich auch das Hauptthema des gesamten folgenden Plots: die Anerkennung des eigenen Ichs, Auferstehung aus der Isolation, aber auch Verbrüderung mit dem Rest der Menschheit – zur Rettung der Zukunft, mit Hoffnung auf eine neue Chance blickend. Als ideologischer Antagonist wirkt da weiterhin Erik Lehnsherr alias Magneto (in jung: Michael Fassbender, in alt: Ian McKellen), der zunächst zwangsläufig mit auf die Mission genommen wird, um so seinen noch immer zwischen den Seiten stehenden Schützling Mystique (Jennifer Lawrence) von einer folgenschweren Entscheidung umzustimmen – welche der Weltbevölkerung eine Gefährlichkeit der Mutanten und somit die Notwendigkeit derer Verfolgung suggerieren wird. Doch das Hardliner-Wesen Magnetos verweigert schließlich die erhoffte Neutralisierung der Verhältnisse, will eine Erhabenheit forcieren, derer die Menschheit untertänig werden soll. Durch diese diktatorische Revolution wählt er jedoch erneut nur die Isolation und legt damit wiederum das schicksalhafte Feuer der fatalen Dualität zwischen Menschen und Mutanten.

Damit sich dieser Weg doch noch ändern kann, bedarf es zwar sicherlich einer guten Menge Superhelden-Power, jedoch setzt Singer bei seinem Aufbau zum dritten Akt hin auf ein Spektakel aus den Motivationen der Charaktere heraus – weniger um Feuerkraft und Gewalt buhlend, als um Empathie und Überwindung egoistischen Zorns wird hier nach dem größeren Ganzen, dem Frieden und der Akzeptanz gekämpft. Jene Werte sollen natürlich den Außenseitern zustehen, doch in diesem Fall müssen sie auch dem Mainstream gleichwertig entgegengebracht werden – so wie es Xavier und die gesamte Filmreihe unter Singers Ägide vom Ursprung an wollte. Es dürfte ja allmählich bekannt sein, dass Singer selbst als Bisexueller durchaus einen persönlichen Bezug in jenen Filmen ausarbeitet – in diesem Rahmen eines Comichelden-Blockbusters komplettiert er sodann jenen Zyklus dieses ihm nahe liegenden Themas. Er propagiert nämlich nicht bloß wie in den frühen Teilen die Toleranz zum Andersartigen und dessen Ausbruch aus dem Sich-Verstecken (wie es Magneto am ehesten sehen will), sondern möchte, dem Charakter Xaviers entsprechend, in der entscheidendsten Stunde der Konsequenz (jener Konfrontationen der Ideologien) eine endgültige Versöhnung erreichen.

Angesichts der jüngsten Anschuldigungen gegen Singers private Person (sexueller Missbrauch von Minderjährigen) schwebt da durchaus eine gewisse Bitterkeit mit, da der Subtext des Films insofern womöglich nach einer Carte blanche zu streben scheint (selbst wenn der Skandal nie öffentlich gemacht worden wäre). Der entscheidende Einschnitt in diese Theorie zeigt sich aber beim Narrativ in dessen ultimativ-einsichtiger Ablehnung einer Forcierung der eigenen Ideologie gegenüber den Mitmenschen – Singer legt es nämlich darauf an, diesen Dämon auszutreiben und da exorziert er sicherlich nicht nur Charles Xavier von seiner Drogenabhängigkeit und feigen Eigennützigkeit. Liegt darin schon ein verfrühtes Schuldgeständnis? Das wird eines Tages mal ein Gericht entscheiden. Innerhalb der siebten X-Men-Kino-Erzählung besitzt die Entwicklung aller Charaktere jedoch durchaus eine lehrsame Realität, an der sich die Zuschauer, unabhängig jeglicher Herkunft, gut orientieren können: Individualität, ohne Militanz, dafür mit Nächstenliebe. Etwas umständlich, dass man für diese Erkenntnis sechs bestimmte Filme im Vornherein kennen sollte (wenn man jene Werte nicht von sich aus schon besitzt), aber wer da bereits keine Berührungsängste mit diesen hatte, wird auch hier humanistisch angeregt und ohnehin erneut dem Genre gemäß glänzend unterhalten.

Meinungen

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