Mit der grundlegenden Kunst des Drehbuchschreibens ist es so eine Sache – vor allem jetzt, da der aktuelle Superheldenkommerz in seiner marktbestimmenden Maschinerie stetig einem neuen Zenit hinterherhechelt und sich laut dem Diktat von Rotten Tomatoes und Konsorten nur wenig Raum zur Steigerung, gar Abwegigkeit erlauben darf. Klar, dass weniger Risiko mehr einbringt, auch bei Produkten, die Innovation lediglich vortäuschen (siehe „Deadpool“). Dennoch will sich manch einer nicht am Konsens anbiedern, ein anderer jedoch steckt zwischen den Stühlen, wenn sich die Qualität eigener Impulse mit Zielgruppen abdecken muss. Die Summe letzterer Zweifel zeigt sich nun auch im Falle von „X-Men: Apocalypse“, ein weiteres Kapitel jener seit 2000 laufenden Reihe Marvel-Comicadaptionen unter dem Fox-Banner. Regisseur Bryan Singer bringt als Initiator des Ganzen gewiss den nötigen Enthusiasmus mit; zumindest kommt er an mehreren Stellen über Simon Kinbergs Drehbuch hinweg, das sich scheu mit Expositionen voll funktioneller Dialoge durch ein Mammut-Ensemble kämpft, um die eine oder andere Ladung ausgeprägter Charakterstärke zu ballen. Der Wettbewerb des Genres erfordert ja schon seit einiger Zeit ein Modell, das sich an ein Universum klammert, aus dem ein eben solches an Filmen entstehen solle.

Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal unter Singer auf den Stichpunkt Koexistenz zu plädieren – und für manche mag gerade dort das Problem liegen. Man darf feststellen: Der Fluss einer Action-orientierten Handlungszuspitzung kommt hier nur bedingt zustande, viel mehr verzweigt sich das globale Happening zum fragmentierten Catch-up, wenn nicht nur die Situationen bekannter X-Men aufgeholt werden, sondern auch solche vom Stamm neuer X-Gören; wobei die meisten dieser Prequel-Versionen bereits erforschte Charaktere darstellen – einer seit „Days of Future Past“ veränderten Zeitlinie sei Dank. Klingt verwirrend? Keine Sorge, wer „Game of Thrones“ auf dem Kieker hat, dürfte das Prinzip inzwischen verstehen. Der ausschlaggebende Faktor wirft nämlich keinen allzu kleinen Schatten: En Sabah Nur aka Apocalypse (Oscar Isaac), der nach einem Jahrtausendschlaf wieder auf die Menschheit losgelassen wird und als Ultramutant voller Kräfte so wenig vom menschlichen Aufgebot an Macht hält, dass er per Herrscherkomplex mal richtig aufräumen will. Dafür sucht er sich (Nomen est omen) seine vier Reiter zusammen, die er nach und nach aus einem Untergrund an mutierten Außenseitern rekrutiert.

Das Gleichnis zum gegenwärtigen politischen Klima kommt unmissverständlich, sobald sich jenes Monstrum aus dem Nahen Osten erhebt und seine Jünger lockt. Als Rattenfänger kann er durchaus manipulieren, gleichsam sind nicht alle seine treuen Gefährten von Grund auf böse, manche schlicht in der Orientierung des eigenen Lebens jenseits der Allgemeinheit und Zukunftsperspektive verloren. Kein Wunder, dass deren Schicksale mehr Gewicht einnehmen als die eher vage Vermittlung des Bösewichts; genauso entschieden widmet sich Singer dem Gegenpol, der durch Professor Charles Xavier (James McAvoy) weiterhin an der Inklusion verweilt – und das nicht ohne Erfolg. Xavier ist aber auch vorbildlich: Egal, wie viel er verliert, um ihn herum wächst ständig wieder etwas heran. Trotz Querschnittslähmung trägt er inzwischen Frisur und Blazer à la Seth Brundle, selbst nach dem Haarausfall sind neue Supporter an seiner Akademie zugegen. Die Vereinigung im Schmerz, jene kollektive Verarbeitung der Ausgrenzung ins Gute, wird wohl für immer überleben. Da kommt es nicht von ungefähr, wenn auch dieser Film die Familie, Verlust und Erkennung derer als thematisches Herzstück anspricht. Aus Feind wird Freund, als ob die „Apocalypse“ nun den „Dawn of Justice“ und „Civil War“ beenden würde. Doch bis dahin gerät die Fahrt ein Stück weit ins Stocken, solange die Differenzen der Ideologien nochmals abgewägt werden; wenn auch mit klarer Daseinsberechtigung per Ambivalenz.

Herausstechend sind die Ambitionen Erik Lehnsherrs (Michael Fassbender) – eher als Magneto bekannt –, ein normales Leben mit Frau und Kind zu führen, bis sich die Kräfte unweigerlich zurückmelden, Vorurteile und Angst heraufbeschwören, auf dass er im delikaten Zustand seiner Seele, seiner Vergangenheit und Zukunft zur Gewalt überläuft. Das Rumpeln der Apokalypse schlägt aber nicht bloß bei ihm Wellen – auf diese Weise begibt sich der Film kreuz und quer zwischen den USA und Polen bis mitten hinein in die DDR oder zumindest eine Fantasieversion davon. Milieuvorstellungen mit X-Men im Vordergrund werden sodann die unterhaltsamsten Schauwerte eines Zeitkolorits anno 1983, das zwischen Highschool-Masche und Ostblock-Maschendrahtzaun pendelt, schließlich lässt sich Singer darin Platz für Momente der Leichtigkeit sowie solche inszenatorischem Atemraubs. Ohne zu viel verraten zu wollen, sei besonderes Augenmerk auf die Transformation von Angel (Ben Hardy) gelenkt, die stilecht im geteilten Berlin für einen Horror sorgt, der nicht nur ganz nach Lamberto Bavas „Dèmoni“ kommt, sondern auch noch Metal darunter legt. Singer räumt nicht nur gerne mit der Teen angst binnen Latex, Fell und Chrom auf, bedenkt man Quicksilvers (Evan Peters) Variante eines Eurythmics-Musikvideos oder den flotten Cadillac mit Cyclops (Tye Sheridan), Jean Grey (Sophie Turner), Nightcrawler (Kodi Smit-McPhee) und Jubilee (Lana Condor) als Passagiere.

Aber kurz Luft holen: Gibt es wirklich so viele Charaktere, bei denen es auch noch gilt, alle Nebenplots und Superkraftdemonstrationen zu vereinen – von Mystique (Jennifer Lawrence) ganz zu schweigen? Der Spaß dauert immerhin wieder 140 Minuten, da gibt es einiges zu schlucken. Darunter auch manch unbeholfene Handlungs- und Deutungsebenen, mit Standardphrasen, typischen Desasterbildern und audiovisuellen Konventionen, die Singer mehr als einmal mit dem 3D-Tunnelblick zu kaschieren versucht. Dazu gesellen sich einige aufhaltende Zwischenstopps, die mehr um den Kern des Narrativs herumtanzen, als ihn mit Mut anzupacken. An anderen Stellen aber erreicht der Film Gefühlsnähe, macht selbst in der narrativen Verzweigung viel Boden und Spielfreude gut, was auf interessante Charaktere sowie auf Singers Interesse an eben diesen zurückzuführen ist. Er kann ihre Katharsis sowie ihre Furcht davor allerdings auch besser in Bilder fassen, als es Autor Kinberg mit Worten schafft; selbst in einem Schlussszenario, das sich letzterer aus allen „Fantastic Four“-Verfilmungen abgeschaut hat. Irgendwas bleibt immer gleich im Kampf zwischen Gut und Böse. Zeitgleich ist auch nichts verkehrt daran, die Qualitäten oder Mängel des Konsens zu reflektieren, wenn die Moral im Innern weiterhin stimmige Argumente für Toleranz, Empathie und der dennoch nötigen Differenzierung von Macht und Gemeinschaft liefert. Der Apokalypse mag es jedenfalls nicht immer gelingen, die Balance zwischen Alt und Neu, Leichtigkeit und Schwere, Dynamik und Redundanz halten.

Meinungen

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