Jesus sagte zu seinen Jüngern in der Bergpredigt: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.“ Ihr meint uns: Jeder Mensch, der auf Erden weilt, ist das Salz. Längst ist es mehr Sprichwort als konkret christliche Parabel. Sebastião Salgado ist einer dieser sieben Milliarden Menschen. Ein Ökonom, bis sich seine Frau Lélia eine Leica kauft, er selbst sehendes Auge hinter der Linse und sie erstes Objekt vor ihr wird. Auch Wim Wenders stiert hinter Linsen in die Welt, bereit, des Menschen Geschichten auf eine Staffelei zu bannen, derer er ihren Anfang und ihr Ende einverleibt. Für „Das Salz der Erde“ suchte nicht Wenders ein Subjekt, sondern Juliano Ribeiro Salgado, der es nicht mehr suchen musste, weil es über die Jahre aus der Distanz permanent auf ihn zu hechtete. Juliano Ribeiro ist der älteste Sohn Sebastiãos. Weil der Vater jedoch erst den Menschen, sein Leid und seine Zerstörung, später die Natur, ihre Grazie und ihre Rückeroberung porträtierte, kennt der Sohn seinen Vater und der Vater seinen Sohn nicht. Dieser Dokumentarfilm von Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado ist aber auch Zeugnis eines Lebenswerkes über sichtbare Schwellen hinweg – zu einem Mann, der den Tod oft genug sah, bis er sich selbst tot fühlte.

Wim Wenders lernt Sebastião Salgado kennen, wie das Auge einen herausragenden Fotografen zwingend kennenlernt: durch jenes eine Bild, welches sich für immer ins Gedächtnis brennt. Vor fünfundzwanzig Jahren sah er die von Sandstürmen und Infektionen erblindete Frau aus der Region Gondan in Mali, die nur noch aus der Welt flüchten wollte. Schon 1985 erzählte Salgado mittels diesem Werk über die Willkür vieler Kriege und die bittere Politik dahinter. Kitsch nannten Kritiker dies, sie sagten, Salgado würde das Leid in außergewöhnlicher Schönheit ästhetisieren. Auch Wim Wenders, obgleich anderer Profession und fern politischer Weckrufe, spürte das Wort auf sich lasten, als er 2011 mit „Pina“ eine Hommage an die Wuppertaler Choreografin Pina Bausch kreierte. So eint der Vorwurf natürlich auch „Das Salz der Erde“, nicht unbedingt, weil beide Künstler aufeinanderstoßen, sondern des immanenten Diskurses wegen, den der Dokumentarfilm selbst zum Mittel nimmt. Denn er ist Anstoß mit seiner Macht des Unerträglichen, Gewalttätigen, Fristlosen. Die Welt, die er erst durch den Menschen zerstört sieht, richtet er danach durch Millionen eigens angepflanzter Bäume auf. Umso mehr Katastrophen Salgado einfängt, umso mehr Katastrophen „Das Salz der Erde“ dem Publikum überlässt, es führt, leitet, zertrümmert, umso mehr drängt er an die humanistischen Grenzen etwaiger Weltverbesserungsfibeln.

Wim Wenders weiß sie zu umgehen, weil er insbesondere eine raffinierte Technik einsetzt, Fotografie und Fotografen für das Publikum interessant, aber auch originell zu kombinieren und zu vereinen. Indem Bildgestalter Hugo Barbier das Objekt Selgado über einen semi-transparenten Spiegel durch seine Werke aufnimmt, integrieren sich Künstler und Kunstwerk sensationell. Aus der Linse einer Linse fluten Eisberge in der Antarktis, brennende Ölteppiche in Kuwait nach dem ersten Golfkrieg, Arbeiter in Brasilien und Sizilien, Hungernde in Afrika, Indianer, Kinder, Alte, Frauen, Männer, Lebende, Tote. Einmal reisen Vater und Sohn gemeinsam nach Sibirien für Salgados Projekt „Genesis“, welches den Planeten einfangen sollte, wie er noch aussieht, wenn er vom Menschen unberührt blieb. Sie imitieren ihre Umwelt, um den Polarbären nahe zu kommen. Es bleibt fraglich, ob zwischen beiden tatsächlich eine solch starke Bindung entstand, wie Sebastião Salgado sie zu den Menschen in seinen Projekten aufbaute.

Entgegen der dann folgenden zumeist chronologischen Aufarbeitung beginnt „Das Salz der Erde“ dort, wodurch Salgado berühmt wurde: Tausende von Tausenden Menschen schwingen sich wie Ameisen endlos lange Leitern hinauf, auf ihre Rücken binden sie Bündel voll Gestein, aus dem sie hoffen, wenigstens das eine Gramm Gold zu schürfen. Die Minenarbeiter von Serra Pelada waren Opfer des Kapitalismus und Materialismus, bevor sie jene Worte überhaupt kannten, sofern sie mit ihnen überhaupt jemals etwas anfangen konnten. Sie waren Sklaven der Gier. Das war 1986, die Welt lag bereits an so vielen Orten in Trümmern. Wim Wenders’ und Juliano Ribeiro Salgados Porträt des Sebastião Salgado erinnert unentwegt an diese Orte und an die Geschichten der Menschen in seinen fotojournalistischen Arbeiten. „Das Salz der Erde“ denkt die kinematografische Ausstellung in ein ergreifendes Portfolio: Unabhängig von dem individuellen Gespür jedes Einzelnen um die Qualität eines Bildes, missioniert er für die Kraft des Ursprungs und des einen Augenblicks, als die Blende schließt. Ein Dokumentarfilm, den es nur zu feiern gilt. Obwohl er eine Ode an die Tragik menschlicher Existenz ist; obwohl er schwer im Magen liegt, weil Sebastião Salgado gerade in einem Extrem das andere markiert; obwohl ein Wandel nicht mehr reicht.

Meinungen

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