„Dad, I have no idea who you are“, beklagt sich der Sohn bei seinem Vater. Denn Edward hüllt sein schrecklich gewöhnliches Leben in ein Meer aus Fantasie und Lügen. Wie oder wer er wirklich ist, rückt dabei völlig in den Hintergrund. Er ist ein großer Geschichtenerzähler, ein Homer der Postmoderne, der von seinen skurrilen Irrfahrten und Abenteuern berichtet, sein wahres Ich jedoch in hinter seiner Maske versteckt. Edward Bloom trägt also nicht ohne Grund den gleichen Familiennamen wie der Protagonist in James Joyce’ „Ulysses“. Auf seinen Reisen trifft er märchenhafte Wesen: eine düstere, einäugige Hexe (Helena Bonham Carter), einen hinterlistigen Zirkusdirektor (Danny DeVito), ein siamesisches Zwillingspaar mit vielen künstlerischen Talenten und einen ursympathischen Riesen, der sich in dieser Gesellschaft aus Zwergen sichtlich fehl am Platz fühlt.

Nichts muss in dieser Fantasiewelt Sinn machen, das ist das wunderbare an Tim Burtons Tragikomödie „Big Fish“ aus dem Jahre 2003, der Adaption des gleichnamigen Romans von Daniel Wallace. Bisweilen hoffnungsvoll romantisch, zutiefst traurig und dann wieder grotesk-komisch. In Rückblenden erzählen Sohn wie Vater die Lebensgeschichte von Edward. Doch sind die beiden eigentlich so unterschiedlich, wie es nur geht: der junge William ein Kosmopolit, dem ländlichen Alabama entflohen in die Metropole Paris; Edward dagegen steht für ein romantisierendes, verklärtes Bild von Amerika. Kunterbunte Vorstadtidylle neben märchenhafter Abenteuerwelt, so sieht die Welt seiner Träume aus. Ein ständiger Begleiter scheint dabei der American Dream. Wenn man es nur will, schafft man alles im Leben. Auch egal, wenn es nur in der eigenen Imagination stattfindet. „Big Fish“ ist eine Hommage ans Geschichtenerzählen, in der die Schwellen zwischen Realität und Fantasie gnadenlos zerbröckeln. So muss auch Will irgendwann feststellen: „In telling the story of my father’s life, it’s impossible to separate life from the fiction, the man from the myth.“ Eigentlich ist er ein rationaler Mensch, der gerne wüsste, wie sein Vater wirklich drauf ist. Er kennt nur dessen Fassade und seine unzähligen Anekdoten. Die Wahrheit ist ihm völlig fremd.

Einen riesigen Fisch, ein wahrhaftiges Monster, hätte sein Vater am Tage seiner Geburt gefangen, wird es ihm immer wieder erzählt. Er kann diese ewigen Lügen nicht mehr hören. Schließlich geht es hier um Wichtigeres, liegt sein Vater Edward doch im Sterben. Wie kann man hier immer noch schwärmen von Erlebnissen, an denen so gar nichts Wahres dran sein kann. Vielleicht ist aber gerade diese Flucht in die Fantasie eine Möglichkeit mit der Tragik des Todes umzugehen? Ein wenig Hoffnung zu spenden, den alltäglichen Alltag zu durchbrechen und aus ihm eine großartige Reise zu zimmern – um am Ende aus einem ganz normalen Menschen einen Helden zu machen, in dessen tiefsten inneren doch immer noch der wahre Edward steckt. Sowohl der nostalgische alte Edward, gespielt von Albert Finney, als auch Ewan McGregor als dessen bezaubernd naive, junge Version erfüllen ihre Rollen perfekt und passen sich an das Burton’sche Bildermeer an. Ein wenig skurril und überzeichnet im einen Moment und ganz intim im nächsten lassen sie so manche Schwachstelle in der Rahmenhandlung verzeihen. Ist es doch gerade das groteske Zusammenspiel von Fantasie und der Angst vor dem eigenen Tode, das am Ende verzaubert und zugleich betrübt. Dass man vielleicht letztlich wirklich Teil dieser Traumwelt werden kann – und als genau jener gigantische Fisch zurückkehren mag.

Meinungen

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