Die Neurose der Einsamkeit, das Scheitern am Leben, der Gang ins Kino – wo hört der Spaß auf, wann beginnt der Exzess? Und vor allem: Wer lacht, wenn sich alle ausgelacht haben? Es ist nicht die Frage nach dem Sinn des Lebens, die einen Neurotiker wie Woody Allen beschäftigt, es ist vielmehr die Destruktivität des Individuums. Jenes menschlichen Außenseiters, der sich selbst im Wirrwarr des Lebens so sicher seiner selbst ist, dass die Fokussierung auf Nebensächlichkeiten zum Mittelpunkt der Existenz wird. Denn dann ist das Scheitern einer Beziehung nicht das Ende etwas Wundervollem und der Beginn von etwas Neuem, sondern die Auseinandersetzung mit sich selbst – der Bruch der Normalität macht aus dem Glück das Unglück.

Woody Allen oder Alvy Singer, Annie Hall oder Diane Keaton, die Personen sind gleich, das Auftreten transparent, doch irgendwie erinnern die beiden, wenn sie auftreten, an so gegensätzliche Individuen, dass sie, trotz ihrer pedantisch gleichen Geschichte, anders sind. Woody Allen blickt mit seinem Film auf sich selbst, baut eine Spiegelwand um sich auf und versucht sich selbst zu erkennen, während Diane Keaton (oder Annie Hall) wie ein Parasit versucht, in das Leben Allens einzutreten. Diese Liebe und dieses Beziehungsgeflecht ist ein aufeinander Zukommen und voneinander Abgehen. Es ertönt ein neurotisches Wimmern von Menschen, die zwischen der Suche nach Nähe und der Enge der Beziehung entscheiden müssen. Als postuliertes Problem der Empfindlichkeit wird die Kommunikation. Wie funktioniert der Umgang miteinander, wenn man redet, aber nicht versteht? Der Gegenüber ist der Flut der Gedanken ausgesetzt, aber man selbst weiß auch nicht, wie  man damit umgehen soll.

Regisseur Allen macht damit aber nicht einen Film über sich selbst oder seine Beziehung zu Keaton, sondern eine parabelartig anmutende Geschichte über Existenzen und Gedanken, die, so der eigenen Unfähigkeit geschuldet, verloren sind. So verloren, dass sie aber eigentlich nur einen Schritt voraus sind. Doch eben jener Schritt ist es, der es unmöglich macht, zu begreifen, was passiert, wenn es bereits geschehen ist. Wenn man aufgrund seiner eigenen Unfähigkeit des Begreifens und des Kommunizierens einsieht, wie unnahbar man selbst ist und die Schuld an der katastrophalen Situation seines Lebens hat. Dabei geht es aber nicht darum, das Schlechte zu verteufeln und das Gute zu propagieren, sondern zu verstehen, dass das Schlechte passiert, wenn das Gute später wieder auftaucht. Der Kreislauf des Lebens, sozusagen. Die Leichtigkeit des individuellen Wandelns. Woody, Alvy, Diane oder Anne – jene charakteristischen Figuren stolpern auf den Spuren des Lebens den Hürden entgegen und verstehen dabei mal mehr oder weniger, was es bedeutet zu leben.

Nur selten war Woody Allen so fixiert auf die neurotischen und systematischen Probleme und Charakteristika seiner Figuren. „Der Stadtneurotiker“ offeriert die gesamte Bandbreite an menschlichen Bedürfnissen: Liebe, Zuneigung, Gewinn, Scheitern, Intelligenz und der unermessliche Drang, Recht zu haben. Da wird der normale Kinobesuch zur gespielt altruistischen Aufklärungsstunde des Unwissenden. Allen ist der arrivierte, aber auch persönlich gescheiterte Alvy Singer. Das künstlerische Gegenstück zu ihm selbst. Die Einsicht, die Allen erfährt, wenn er erkennt, dass weder er noch Keaton romantisierte Figuren in einem Film sind, sondern lebensechte, fühlende Menschen, wird Diskretion des Stadtneurotikers zum Exempel filmischer Menschlichkeit: Es geht nicht per se um das „Fühlen“, aber dafür umso mehr um das „Erleben“.

Der Unterschied liegt darin, dass Allen seine Geschichte zwar erzählt, dabei aber nicht die Signifikanz des Lebens, also der selektiven Darstellung von Gefühlen, Gedanken und Taten vergisst. Wir lieben, sprechen, fühlen. Desorientiert wandern wir durch das Leben, ernten dabei Erfolge, scheitern aber auch. Indem Woody Allen dies alles anhand einer Figur thematisiert, wird aus der Angst vor dem Scheitern etwas Beflügelndes. Euphorie keimt auf, denn selbst wenn man scheitert, erkennt man die Möglichkeiten des Gewinnens. Es ist kaum deutlicher zu statuieren, dass sich Allen von einem filmischen Beziehungsratgeber distanzieren will, aber „Der Stadtneurotiker“ ist ein Schritt Richtung besserem Verständnis.

Konfrontiert mit dem Erfolg anderer, wird Allen zynisch. Er erkennt sein Versagen, bleibt aber grotesk. Groteske Sinnbilder des Scheiterns werden zur Diffamierung seines Fühlens. Alvy Singer ist ein Mann, der eigentlich weder der Adonis ist, der er gerne wäre, noch so intelligent, wie er wirken möchte und doch kreiert er ein Überlegenheitsgefühl. Er selektiert und distanziert sich selbst von Typisierungen, will dabei anders sein, bleibt aber doch ein wandelndes Klischee. Jener neurotische Außenseiter, der Jude, der sofort Antisemitismus erkennt, wenn Juden zum Thema werden. Ein empfindlicher Kauz, doch in seinem Stereotyp liebevoll und einzigartig. Der Zwang, andere fernzuhalten und dabei zu vergessen, wer er eigentlich ist, macht aus ihm – und auch Annie – ein sich selbst nicht verstehendes Wesen. Die Menschen sollen auf Abstand bleiben, aber doch wollen sie körperliche und auch emotionale Nähe. Das aber ist unmöglich, der Konflikt breitet sich aus. Im Inneren, wo es keiner sieht, kämpfen Alvy und Annie darum, miteinander und sich selbst klar zu kommen. Da sie aber stets in Verteidigungs- und Abwehrhaltung verharren, bleiben sie Außenseiter, unverstandene, eben neurotische Müßiggänger.

In dem Œuvre Allens ist „Der Stadtneurotiker“ jene menschliche Parabel des Gewinnens und Scheiterns. Seine Charaktere sind geltende, aber abseits agierende Menschen. Der Fokus liegt darauf, die Menschen zu verstehen, deswegen ist es so wichtig Alvy und Annie als Menschen und nicht als einfache Figuren zu begreifen. Sie betreten im Film die Bühne und verlassen sie wieder, bleiben aber existierende, wirkliche Wesen, weil sie die Transparenz zwischen Woody Allen und Diane Keaton nicht halten und die Grenzen verwischen lassen. Es ist der wichtigste und vermutlich auch beste Filme Allens, der das beinhaltet, was ein Film von Woody Allen braucht: Liebe und Leben.

Meinungen

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