Die allgegenwärtige Frage „Sind wir wirklich alleine?“ offenbart den menschlichen Typus des forschenden und zukunftsorientierten Individuums genau: Der oft als Selbstreflexion definierte Drang nach Wissen ist nur ein Vorwand zur eigenen Unsterblichkeit. Reisen ins All und in immer fernere Gebiete des Universums gelten in der (filmischen) Welt nicht dem eigenen Streben nach Wissen, sondern der Selbstoffenbarung. Schon in Ridley Scotts Meisterwerk „Alien“ ist Sigourney Weaver nicht eine Wissenschaftlerin, die nach Wissen über Unbekanntes strebt, sondern in ihrer Odyssee sich selbst findet. Auch einer der neuesten Genrevertreter, „Gravity“, lässt Sandra Bullock nicht als die kühle und berechnende Forscherin durchs All treiben – stattdessen befindet auch sie sich auf der Entdeckung ihres eigenen Ichs und der Frage nach der transzendenten Weite des menschlichen Lebens.

Die Reise der Europa One zum viertgrößten Jupitermond Europa in Sebastián Corderos „Europa Report“ ist mit der Frage angetreten, ob sich hinter der dicken Eisfläche des Mondes tatsächlich ein riesiges Meer befindet. Die erste unbemannte Exkursion auf den Mond brachte Ergebnisse, die großartig erscheinen: Unter der Eisschicht soll es tatsächlich möglich sein, einzelliges Leben zu finden. Doch die Reise ist für die Astronauten ein Schritt immer näher an ihre eigenen physischen und vor allem psychischen Belastungsgrenzen.

Besonders die erste Hälfte des Films besticht durch seinen Einsatz der Found-Footage-Ästhetik und findet damit sogar, abseits der durchexerzierten Horrorgeschichten mit denselben Methoden, ein narratives Gewicht. „Europa Report“ gelingt es seine beiden Hälften vollkommen getrennt voneinander stattfinden zu lassen. Charakteristisch für die Nutzung des Found-Footage ist gängigerweise die Absicht, möglich realitätsnah Geschehnisse filmisch darzustellen und eine Brücke zwischen der distanzierten Weite des Zuschauers und der Thematik zu schlagen. Kameramann Enrique Chediak allerdings nutzt die Technik einzig und allein dafür, um die Geschichte zu erzählen. Dabei blickt Chediak aus Bordkameras auf die Figuren des Films, beobachtet sie bei ihrer Reise durch das All und lässt sie einfach treiben. Keine unsinnigen Erzählungen am Rande sorgen dafür, dass man das Gefühl hat, man bekomme die Geschichte ausbuchstabiert. Gebremst wird die Narration des Films aber durch den bestechenden Flashback-Erzählstil, der die Spannung aus der Reise der Mannschaft nimmt. Der unklare Stil, ob nun als Mockumentary oder Thriller aufgebaut, lässt den Film bis zur Ankunft der Mannschaft durchgehend zwischen distanzierter Kühle des Eismondes und lehrreicher Studie einer verlorenen Mannschaft schwanken. Selten bekommt Regisseur Sebastián Cordero den nötigen Blick auf die Geschehnisse, um überzeugend zwischen den genannten Exempel zu differenzieren.

Schon Goethe erkannte früh: „Wir würden gar vieles besser kennen, wenn wir es nicht genau erkennen wollten“ und beschreibt damit effektiv das inhaltliche Problem von „Europa Report“: Der Film bleibt jederzeit ein Aufruf zur Forschung an sich. Der Drang, immer weiter hervorzudringen, in Gebiete, die so unbekannt und neuartig für menschliche Wahrnehmungen sind, dass alles andere vollkommen irrelevant erscheint. Selbst ein Menschenleben und Kameradschaft werden dem unendlichen Drängen nachgegeben und dem untergeordnet, was noch gar nicht da ist. Cordero greift keine kritischen Implikationen auf, sondern euphorisiert den futuristischen Gedanken, welcher per se nicht negativ ist, aber dennoch einer kritischen Auseinandersetzung bedarf. Der unumstößliche Drang nach wissenschaftlicher Erkenntnis, welcher die Crew durchgängig begleitet, ist eine fehlende moralische Diskretion im Denken der Menschen: Wie weit bin ich bereit zu gehen, um den Fortschritt zu gewährleisten, der eine exemplarische Innovation legitimiert? Relativiert sich ein Menschenleben unter dem Allgemeinwohl, welches der Fortschritt verspricht? Die fehlende Differenzierung seitens des Drehbuchs vom moralischen Konflikt der Crew und deren Taten ist der größte Kritikpunkt von „Europa Report“, da die inhaltliche Ebene so vollkommen versagt.

Indem Cordero darauf verzichtet, eingangs direkt darauf einzugehen, was die letztendliche Kristallisation der Reise sein wird, erscheint der eingeführte Twist in seiner formelhaft und genauso stümperhaft wie stupide erklärten Versicherung der Ereignisse katastrophal deplatziert. Fragmentarisch geht „Europa Report“ seinen Weg von der Mockumentary zum Weltraum-Thriller und erscheint dabei durchgehend als gut gemeinte Fingerübung des Regisseurs, der voller Elan gewillt ist, dem Subgenre der Weltraumfilme zu entsprechen, ist aber auch zu ängstlich, um eigene Akzente zu setzen. Die Hilflosigkeit sah man dieses Jahr bereits in Perfektion bebilderter Weitläufigkeit in „Gravity“ und auch der Weg einer Crew, zwischen menschlichem Schicksal und Erkenntnis, hat seine Referenz im Genre mehr als deutlich postuliert. Plakativ setzen Drehbuchautor Philip Gellat und Regisseur Cordero mehrmals darauf, den Film als zitierfreudiges Allerlei darzustellen und setzt deutliche Parallelen zu Kubricks „2001“ und Carpenters „Dark Star“.

„Europa Report“ zelebriert einen wenig interessanten Weltraum-Ausflug, der einzig seine Berechtigung darin findet, den Found-Footage-Stil als eine Tugend zu nutzen und die Geschichte voranzutreiben. Das unterscheidet den Film zumindest in technischer Sicht von vielen Genrevertretern, die sich, ähnlich wie „Apollo 18“, in ihren Ambitionen verscherzen und kläglich versagt haben. Die Crew der Astronauten zeigt sich als homogenes Bild einer Gruppe, mit gleichen Intentionen, aber falschen Absichten. Zu groß ist die moralische Frage, die der Film unbeantwortet offenlegt und sich nicht selbstreflexiv darum kümmert.

Meinungen

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