Beim betrachtenden Vergleich von Kulturen sticht immer wieder der Humor als Differenz oder gemeinsamer Nenner auf. Skandinavier strotzen vor makaberer Trockenheit und teilen sich beispielsweise etwas Bitterböses mit den Österreichern – aber ebenso die Briten sind für ihren trockenen, aber dafür sozialkritischen und absurden Witz bekannt. Die ganze Welt lacht und weint; doch oft findet man Nischen, die nirgends wirklich hineinpassen, weil sie so anders und einzigartig sind, dass es zu einer hohen Polarisation führt. Ein Beispiel für eine solche Nische ist der auf der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb uraufgeführte „Stratos“ von Yannis Economides aus Zypern. Er ist etwas für Freunde weniger Worte und der Schlagfertigkeit: eine griechisch-lakonische Mixtur aus Thriller, Drama und makaberer Komödie. Dieses für viele befremdlich wirkende Werk hat es in sich, weil es mit gnadenloser Rigorosität glänzt.

In unglaublich langsamer Erzählart steigt die Radikalität auf steinigen Stufen nach oben, niemals beschleunigend, nüchtern schockierend, auf unangenehm angenehme Weise konsequent und stilsicher. Diese Stufen führen ins Nichts, in die aus den Umständen sinntriefende Bedeutungslosigkeit einer griechischen Gesellschaft, so barbarisch und brutal, dass Gewalt nicht nur als Lösung von Problemen fungiert, sondern als fressender Alltag. Diesem Film muss man sich hingeben; mehr als nur ein paar Kollegen auf der Berlinale schafften das während der Pressevorführung nicht und verließen in unverschämter Häufigkeit den Saal. Als Randbemerkung erlaube ich mir hier, dies als eine typisch negative Entwicklung der Sehgewohnheiten einzuordnen, wie sie zum Beispiel auch Jean-Claude Carrière in seinem Buch „Der unsichtbare Film“ zu kritisieren weiß, denn „Stratos“ gehörte zu den besten Filmen der diesjährigen Filmfestspiele Berlin, gerade weil er so unorthodox „langweilig“ geschnitten ist.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Überlebenskünstler Stratos (Vangelis Mourikis). Überlebenskünstler bedeutet in diesem tragischen Fall allerdings Auftragsmörder und Brotfabrikbandarbeiter. Für Leonidas, dem er sein Leben verdankt und der im Gefängnis sitzt, sammelt er Geld und verbringt seine innere und äußere Leere damit, andere Leben entweder zu beenden oder ritterhaft zu bewahren. Economides, der auch das Drehbuch schrieb, scheut sich wahrlich vor keiner unmenschlichen Grausamkeit. Doch diese negativen Emotionen gleicht er mit fairen Resultaten aus, ähnlich wie Lars von Trier in „Dogville“. Sehr realistisch bewegt er die Figuren auf engstem Raum, lässt sie explodieren und dennoch stagnieren. Natürlich werden repräsentative Vergleiche zum heutigen Griechenland möglich, einem verzweifelten Volk in einer ungeheueren Krise, die vielleicht auch eine massive Schuld der eigenen Reihen widerspiegelt. „Stratos“ ist kein politischer Film, vielmehr zeigt er die Folgen vom Verfall der geordneten Zivilisation auf, beispielsweise wenn das eigene, achtjährige Kind für sexuelle Zwecke zum Schuldausgleich angeboten wird. Stratos scheint der einzige normal denkende Mensch in seinem Umfeld zu sein, zumindest ist sein nach außen hin vollkommen isoliertes Denken am ehesten nachvollziehbar und wie die personifizierte Intelligenz inmitten kollektiver Dummheit.

In absolut starren Einstellungen, die bewusst auf Bewegung verzichten, erkennt man vor allem eines: Economides erzählt von der Leere der Menschen, polemisch könnte man anmerken, es passiere über 137 Minuten lang so gut wie nichts, doch genau das wurde so häufig missverstanden. Schon wie bei Tarkovsky bietet die Leere und die Langsamkeit einen entscheidenden Vorteil: Details und Tiefe. Je länger Mourikis voyeuristisch durch die Linse beobachtet wird, wie er zwischen Explosion und autistischer Introversion oszilliert, desto besser wird er gekennzeichnet, desto mehr erfährt der Zuschauer von seinem Innenleben, das teilweise nicht zu existieren scheint. Ist es die Gesellschaft oder ist es seine eigene kriminelle Vergangenheit, die ihn derartig entleert hat? Oder ist es eine nationale Öde, ein eiserner Schleier, welcher der zunehmenden Mittellosigkeit zu Grunde liegt?

Stratos löst Probleme, obwohl er mit mehr als widrigen Umständen zu kämpfen hat. Dem Zuschauer wird aber eine Sympathisierung nur bedingt möglich gemacht, weil Economides auf jegliche Sentimentalität verzichtet, jegliche, wahre Bedeutung menschlicher Beziehungen negiert, sodass Stratos’ rigoroses Verhalten eher dem Ehrgefühl und dem Gerechtigkeitssinn entspringt. Wie ein edler Ritter, der trotzdem schlachtet.

Meinungen

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