Die Physis der Organik gegen die unausweichliche Brisanz des elementaren Bollwerks. Der Tritt gegen den rasant hinabfallenden Regen akzentuiert schon zu Beginn des Films die Ambivalenz des Geschehens als monotones Werk einer Biografie und der Möglichkeit der Rekapitulation eines Teils der Menschheitsgeschichte in einer ästhetisierten Form. Für westliche Augen ist die Kampfkunst oftmals gleich Kampfsport und ein fernes Zeichen östlicher Eleganz. In „The Grandmaster“ begibt sich Wong Kar-wai mithilfe jahrelanger Recherche auf den Weg der chinesischen Historie, der Bedeutung des Lebens eines Mannes und der Berufung dessen, was die Weitergabe von Tradition und Idealen bedeutet. Der Mann, um den es geht, ist Ip Man, jener großartige Kampfkünstler, der den Weg der Kampfkunst durch die Lehre eines ebenso berüchtigten Künstlers in die westliche Welt ebnete.

Unbesiegt im Kampf mit anderen seiner Kung-Fu-Zunft ist Ip Man (Tony Leung) der gefeierte Großmeister des chinesischen Südens. Als er die Zuneigung Gong Ers (Ziyi Zhang) erlangt, ändert sich sein Leben. Allerdings bleiben sie nicht vereint und werden durch die Besetzung japanischer Truppen in Südchina getrennt. Ip Man muss für das Überleben seiner Familie kämpfen und Gong Er ist gezwungen, im Norden Vergeltung für die Ermordung ihres geliebten Vaters einzuholen. Die Geschichte der beiden läuft getrennt, bis sie sich in Hongkong wiedertreffen.

Die Kohärenz Ip Mans als Kampfkünstler, historische Persönlichkeit und eines künstlerisch interessanten Individuums ist nicht die blanke Tatsache, dass er einst den bis heute ebenso legendären Bruce Lee unterrichtete, sondern viel mehr die Begebenheit, dass sein Leben so homogen dem deutlichen Weg der chinesischen Geschichte entlanggeht. Wong Kar-wai bereitet diese Geschichte als ästhetisches Bild der Eleganz und Schönheit auf. Er vermischt die Gefühle Ip Mans mit der Geschichte, die den Kampfkünstler nach Hongkong treibt und symbolisiert durch die Möglichkeit der inneren Zerrissenheit seines Protagonisten die Kampfkunst als probates Mittel individueller Gemeinsamkeit. „Freundschaft durch Kampfkunst“ propagiert ein Schild und legt damit die essenzielle Darstellung der Kampfkunst dar: Es ist nicht die oberflächliche Konfrontation der Gewalt, sondern die im Inneren der Künstler stattfindenden Emotionen und Gedanken, die sie durch Bewegung, Zeit und Raum Ausdruck verleihen und miteinander verbinden.

„The Grandmaster“ suggeriert eine Stimmung der reflexiven Innerlichkeit. Distanziert und beinahe selektiert von der Außenwelt, wäre da nicht die historische Signifikanz, bewegen sich die Figuren durch die Jahreszeiten. Zurückgezogen berichtet Tony Leung aus dem Off von den Schicksalen seiner und Gong Ers Liebe und die Unmöglichkeit des Gemeinsam-Seins. Ausdruck ihrer gegenseitigen Zuneigung ist der Kampf. In einem ästhetischen Meisterwerk der Montage begegnen sich Tony Leung und Ziyi Zhang in vollkommener Harmonie zwischen den Stockwerken und Treppen des Goldenen Pavillons und lassen die sexuelle Energie des Kampfes aufleben. Ihr physisches Aufeinandertreffen ist kein Akt der eigenen Befriedigung, sondern der Möglichkeit, ihre Gefühle aufeinander abzustimmen und erkennen zu lassen. Wong Kar-wai versteht es besonders in seinen ruhigen, aber genauso schnellen Momenten der körperlichen Einigkeit die Gefühle der Charaktere darzustellen. Hier zählen keine verletzten Blicke oder tränenden Augen. Wirkliches Zeichen der Liebe ist die Physis, die in „The Grandmaster“ deutlicher hervortritt, als in all seinen anderen Werken. Die Liebe ist in Wong Kar-wais Werken ein immer wieder aufkehrendes narratives Mittel, welches die Geschichte vorantreibt. Doch steht sonst die Interaktion zweier Individuen im Vordergrund, erzählt „The Grandmaster“ nicht ohne Schwächen von einer anderen Art der Liebe. Zwar sind sie durch gesellschaftliche Konventionen nicht berechtigt, ihre Liebe zu leben, aber Ausdruck der Gefühle gibt es dennoch – auch ohne Sexualität.

Für den Regisseur selbst ist der Film vielleicht sein wichtigster, für das Publikum wohl sein entfremdester Zögling, denn das Sujet seines Kampfkunst-Filmes ist erstaunlich oberflächlich. Distanziert und vollkommen ohne geradlinige Gefühle erzählt Wong von der Geschichte des Kampfkünstlers und zeichnet im Hintergrund noch die Geschichte Chinas im frühen 20. Jahrhundert. Nach der relativ erfolgreichen Trilogie von Wilson Yip kommt natürlich die Frage auf, wieso genau der Kantonese die bekannte Geschichte noch einmal aufleben lässt. Ist die Trilogie von Yip eine eher klar strukturierte und ohne filmische Raffinesse ausbuchstabierte Geschichte Ip Mans, so gelingt es Wong Kar-wai als deutlich versierterer Regisseur die Geschichte ausreichend zu akzentuieren. Deutliche narrative Schwächen im Drehbuch, die das Werk als Geschichte fragmentarisch und dekussiert erscheinen lassen, kann selbst die außerordentliche bildliche Brillanz nicht ausgleichen. Zu oft arbeitet Wong Kar-wai mit Zeitsprüngen und lässt den Fokus aus den Augen. Er erzählt sprunghaft von den historischen Fakten und der Figur Ip Mans, die er im Laufe des Films beinahe vollständig vergisst und als Nebencharakter deklassiert, während er die Geschichte von Gong Er unsensibel in den Vordergrund rückt. Die geschicktere Variante, die Geschichten miteinander zu verbinden und aufeinander aufbauen zu lassen, wird außenvorgelassen.

So bleibt der Film als Möglichkeit die Geschichte zweier Individuen zu erzählen zwar mangelhaft, aber als Gefühls- und Erinnerungskino ein ebenso wichtiges Werk. Denn Wong Kar-wai hat die Kampfkunst in seiner theoretischen Brisanz verstanden. Es geht nicht um den Austausch von Schlägen und Tritten, auch nicht unbedingt um sich selbst, sondern um die Interaktion miteinander. Und das gelingt ihm wie noch nie jemandem zuvor. Die Tradition der Menschen, deren Ideale und Träume, zusammengefasst in einer physischen Unerträglichkeit, dazu in der Lage zu zerreißen, bringen „The Grandmaster“ und Wong Kar-wai auf eine neue Ebene künstlerischen Verständnisses.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „The Grandmaster“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Bisherige Meinungen

Yun
9. Dezember 2013
14:25 Uhr

Wong Kar-wai geht es nicht um das Wesen der Kampfkunst (diese soll nur ein bestimmtes Prinzip veranschaulichen), auch nicht um zwei Menschen, die nicht zueinander finden (auch wenn diese für das oben genannte Prinzip stehen), auch nicht um das Leben Ip Mans (dieser steht nur Beispielhaft für etwas anderes). Worum geht es dann? Es geht um Nord (Peking) und Süd (Hongkong). um das zukünftige Verhältnis zueinander, was spätestens 2047 der Fall sein wird. Wird (das Prinzip) der Norden den Süden einverleiben, oder (das Prinzip) der Süden, sich in den Norden ausbreiten? In zahlreichen Szenen, Bildern und Dialogen, wird eben dieses Verhältnis zueinander thematisiert – achten Sie einmal darauf!

Kinostart: 16.02.2017

Elle

Paul Verhoeven kehrt zum Wechselspiel der Moral in der humanistischen Rücksichtslosigkeit zurück.

Kinostart: 08.12.2016

Right Now, Wrong Then

Hong Sang-soo parodiert die Macht der Wahrnehmung, indem er sie egoistisch nacherzählt.

Kinostart: 01.12.2016

Die Hände meiner Mutter

Florian Eichinger blickt realitätsbewusst auf die Anatomie und Konsequenzen des Missbrauchs.

Kinostart: 17.11.2016

Amerikanisches Idyll

Ewan McGregors Regiedebüt bemüht nur ein vages und moralinsaures Porträt einer Radikalisierung.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.