Zwischen Wissen und Wissenschaft porträtiert David Cronenberg den Albtraum aus Fleisch und Blut mit Gift und Galle. Zeit, ihm in einer Retrospektive zu huldigen! Des Parasiten zehnter Schlag mit „Tödliche Versprechen – Eastern Promises“.

Leben und Tod liegen nah beieinander. Nicht nur, weil der Tod unvermeidlich ist, sondern auch, weil totes in neues Leben übergeht – ein transformativer Akt, der Existenzen und Geschichten weiterspinnt, Zukunft und Vergangenheit verknüpft. David Cronenberg ist ein Regisseur, der derartige Vorgänge visuell greifbar machen kann. Besonders subtil zeigt er dies jedoch in „Tödliche Versprechen – Eastern Promises“, wo er aus dem Mord an einem russischen Gangster und dem Tod einer jungen Frau eine Geburt schöpft. Hier, in der geradlinigen Bühne des Londoner Untergrunds, hätte man Cronenberg am wenigsten vermutet – und obwohl seine teils blutenden Akteure am Rande der Körperfestigkeit stehen, ist dieses Werk von außen kein typischer Film seines Repertoires. Aber jenseits der formschönen Oberfläche besitzt er viele Ansätze jener Cronenberg’schen Transformation, die sich neuen Rollen im Leben annimmt oder das wahre Ich verdeckt.

Dies fängt schon bei der Hebamme Anna (Naomi Watts) an, die das Baby einer bei der Geburt verstorbenen Prostituierten versorgt und allmählich mütterliche Verantwortung übernimmt. Cronenberg strukturiert damit sein Bild der Mutterschaft wohlwollend um, seit er es in „Die Brut“ verzerrte. Anna versucht dementsprechend herauszufinden, woher das Baby, das sie nicht unabsichtlich Christine getauft hat, herkommt und benutzt dafür das Tagebuch der Mutter, das in Russisch verfasst wurde und übersetzt werden muss. So findet der Film ins Milieu und zu Gangsterboss Semyon (Armin Müller-Stahl) zurück, der sich durchaus als Menschenfreund gibt, aber im Geschäft als das Grauen in Person agiert. Eine einfache Offenbarung, die von Cronenberg mit wenig Aufregung gehandhabt wird; wie auch die weiteren Taten des Mannes, die an sich schlimm genug sind, aber als Strichliste für übles Handwerk beim Zuschauer Gerechtigkeitswünsche hervorrufen.

Dabei entlädt Cronenberg gerne kühle Drastik; doch man muss eben auch bedenken: Der Film spielt ausgerechnet zu Weihnachten. Derartige Emotionalisierungen sind zwar effektiv, aber eher das Werk des Drehbuchautors Steven Knight, dessen Handschrift in vielerlei Hinsicht überschwappt. Die Verantwortung einem Neugeborenen gegenüber thematisierte er erst kürzlich in „No Turning Back“; genauso wie den Oberbegriff der Vaterschaft, der sich hier in der Beziehung zwischen Semyon und seinem Sohn Kirill (Vincent Cassel) zeigt. Letzterer scheint seinem Vater keine große Ehre zu sein, weshalb dieser sein Vertrauen allmählich in Kirills Chauffeur Nikolaj (Viggo Mortensen) legt. Die harte Schale jenes Mannes mausert sich im Verlauf aber immer mehr zu einem gütigen Retter; einer, der auch nicht das ist, was er scheint. Dort wird gleichzeitig Mortensens Rolle in „A History of Violence“ parallelisiert, doch hier besitzt er zudem die moralischen Qualitäten der Wiedergutmachung, die Knight in seinen Protagonisten gerne verwendet (siehe auch „Redemption – Stunde der Vergeltung“).

Solche Ideale von Gerechtigkeit und Ehre beißen sich normalerweise mit dem blanken Schrecken Cronenbergs, wenn man nicht auf „Die Brut“ zurückblickt und erkennt, wie sehr ihm dort die Sorge ums Streitobjekt Kind ans Herz ging. Die Bindung der beiden Herren ergänzt sich also in glücklicher Eigenart. So beweist sich der unverhoffte Held Nikolaj im Kampf in kompromissloser Nacktheit im Dampfbad, wo aufgerissene und reißende Körper umeinander ringen, bluten, schlagen und hacken. Allerdings auch durch eine Falle, die eigentlich einem anderen galt, für den Nikolaj wiederum ausgegeben wurde. Solche und ähnliche Entwicklungen sind die Spielplätze für Cronenbergs Spezialität der Identitätsfrage, die schon im Kontrast zum Drehbuch festzustellen sind. Es geschieht eine Übersetzung, die auch hinsichtlich des Tagebuchs im Film vollzogen wird – ganz zu schweigen von der Verständigung im multikulturellen Ensemble der Unterwelt, in der es viele Stichwörter fürs Lebensende, doch auch für Vergebung gibt. Das macht „Eastern Promises“ trotz aller Gangster-Manierismen vielleicht zum sentimentalsten Film Cronenbergs, auch, weil er dank Knight zu den Menschen darin findet.

Meinungen

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