Wenn in den Filmen der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mehr passieren würde als das Leben, dann wären es wohl vermutlich keine Filme der Brüder Dardenne mehr; dann wären es wohl nur noch leblose Hüllen über den Sozialstaat, über Eigentum, Glauben, Politik und Postkapitalismus; dann würde in ihnen ein Feuerwerk kinematografischer Fülle explodieren, aber die Emotionen, die würden begraben werden. Da „Zwei Tage, eine Nacht“ aber ausdrücklich ein Werk der Zwei ist, raunt es aus ihm wie eine Fabrik, die ihre Arbeit einstellt. Es stellt die Frage: Zählt man selbst mehr oder ein anderer? Lebt man besser im Materialismus oder besser der Nächstenliebe? Sandra (famos: Marion Cotillard) hofft, der Mensch entscheide sich für letzteres. Der Mensch, das sind hier sechzehn Kollegen, die es umzustimmen gilt, statt einem Bonus in Höhe von 1000 € doch Sandra vorzuziehen, da diese mit dem Verzicht ihren Job behalten könnte. Vielleicht ist es die Entscheidung gegen Schuldenabbau, das endlich abbezahlte Haus, die Bildung der Tochter oder die Reparatur des kaputten Autos. Vielleicht ist es die Entscheidung, wie der Mensch in einer Welt leben will, in der ihm ein Vorarbeiter des Chefs eintrichtern möchte, welche Wahl die bessere, weil sinnvolle ist. Vielleicht ist es nur die Wahl, ob Sandra nach anhaltender Depression imstande ist, die Arbeit ebenso auszuführen, wie jeder der sechzehn Anderen. Was bleibt, ist ein Wochenende.

An diesem Wochenende, den titelgebenden zwei Tagen und einer Nacht, zieht Sandra um die Häuser, wie Jugendliche, unbedarfte Minderjährige mit Kippe im Mund und Bier in der Hand, niemals um die Häuser ziehen würden. Sie klingelt mal an der Tür, mal die Kollegen über ihr Telefon an, steht da und sagt ihren Text auf. Die Zeilen sind immerzu dieselben: Der Frust, die Angst in ihrer Stimme belegt es. Wer schon für sie gestimmt habe, heißt es meist als fragende erste Reaktion – man will schließlich nicht der Einzige sein, der Sandra unterstützt und eventuell im Nachhinein wie der Dumme dasteht. Die zweite Reaktion ist auch: Ich kann nicht, ich habe Verpflichtungen, verstehe doch meine Lage. Um jene ausgesprochene Zwickmühle geht es Jean-Pierre und Luc Dardenne immerzu. Denn in der heutigen ökonomischen Verantwortungsmisere zwingt sie die Arbeiterklasse, ihre eigenen, folgenschweren Entscheidungen treffen zu müssen, welche beim Menschen den höchsten Schaden hinterlassen. Weil es nicht mehr der irgendwo entfernte Universitätsabsolvent mit reichen Eltern ist, der für einige Monate arbeitslos wird, sondern der Nachbar von gegenüber, der Obsthändler in der Gasse nebenan, der beste Freund, der bei einem selbst Unterkunft sucht. Es sind Menschen, die man kennt, liebt, mit denen man aufwuchs, die man nicht verlieren will. Es sind Menschen, die vielleicht nie wieder hochkommen, wenn sie einmal fallengelassen werden.

Den semidokumentarischen Hauch inklusive Handkamera legt „Zwei Tage, eine Nacht“, obwohl leibhaft gewordenes Markenzeichen der Dardennes, jedoch für eine leichthin saubere bis klinische Inszenierung ab, die dabei noch immer auf Augenhöhe mit seinen Protagonisten weilt. Schon in „Rosetta“ (1999) ließen sie eine junge Frau in den Alltag der Arbeitslosigkeit und den Kampf fortwährender Existenzangst treiben, welche Sandra – als schlimmste aller Möglichkeiten – noch bevorsteht. Die vermeintliche Konstruktion mittels kalkuliertem Zeit- und Handlungsablauf ermöglicht erst die Fallhöhe eben jener Geschichte, die simpler und gleichzeitig komplexer nicht sein könnte, ihr Rückrat aber bis ins Mark und die gen Ende folgende Abstimmung inklusive anschließender Debatte mit dem Chef zurückhält. Es ist noch immer der Alltag des Lebens, den die Dardennes abbilden, ohne sich verschrobener Justierungen ihrer Charaktere zueigen zu machen, ohne sie zu entblößen, weil sie am Boden sind. Gerade weil sie am Boden sind, fixieren die Brüder sie. Aber weil sie noch an den feinen Strang der Hoffnung glauben, richten Jean-Pierre und Luc Dardenne sie immer wieder sorgsam an ihren Fäden auf. Und bei aller exakten Milieustudie meinen sie dies durchaus nicht zwingend positiv: Manchmal sogar bleiben ihre Figuren auch am Boden liegen, weil darüber erst ein Platz frei werden muss und damit ein weiterer armer Schlund durch’s Raster fällt. „Zwei Tage, eine Nacht“ sagt erstaunlich direkt: Wer an sich glaubt, der scheitert aufrichtig.

Bis dahin aber stolpert Sandra über ihre Psyche. Eine Pille Xanax wird geschluckt, Wasser spült sie herunter, sie fühlt sich vermeintlich besser, der Druck in ihrer Brust lässt nach, der Atem stockt nicht mehr. Der Tag vergeht und sie schluckt und schluckt. Die eine Pille reicht nicht mehr, sie schluckt die nächste. Wer da einen Teufelskreis erwartet, liegt falsch und doch richtig. Aber die Antwort dieses Films zeigt noch eine Lebenswahrheit, die sich filmischer Spannungsdiktatur versagt und stattdessen eine reichlich unbequeme, aber immerzu plausible Antwort gibt. Diese Reaktion abseits jeglicher rein dramaturgischer Zwecke lässt „Zwei Tage, eine Nacht“ konkret und universell werden, wie es die Filme der Dardennes meist waren, selbst wenn es ihnen an lichten, unwiderstehlichen Momenten mangelte. Als Sandra für einen Moment ein Lied im Autoradio mitsingt, da steht außer Frage, ob sie als Sympathisantin oder leichtes Opfer durch das Werk leitet. Weil sie dadurch Mensch wird, der das filmsiche Vakuum überschreitet. Schließlich fordert sie die weltlichen Probleme, unter denen ein Jeder zu leiden hat. Sie ist Indikator des Postkapitalismus. Aber von der Politik dahinter spürt man glücklicherweise nichts: Weil das Kino der Dardennes herrlich unpolitisch ist.

Meinungen

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