Das Problem der Realität, der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Einbildung und tatsächlicher Präsenz – richtig klar, wann etwas einem Echtheitszustand entspricht, kann niemand artikulieren. Die religiöse Metapher der Seelenwanderung zwischen verschiedenen Existenzen, zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Geistern ist für die Thailänder im Norden ihres Landes spiritueller Mittelpunkt von Existenz und Traum. In „Cemetery of Splendour“ ist ein Krankenhaus gar kein Krankenhaus, sondern eine Schule – und Protagonistin Jen (Jenjira Pongpas Widner) nennt die Bauarbeiten halb scherzhaft eine Verschwörung der Regierung, so unauffällig auffällig verschleiert, dass dies niemand durchschauen wird. Mit der Thematik der Undurchdringbarkeit von Bewusstseinszuständen, Realität und Fiktion leitet Apichatpong Weerasethakul auf ironischer Ebene fast schon ein Intermezzo der Blasphemie ein.

Ohne erkennbare Kausalität eines narrativen Geflechts leistet Weerasethakul, seinem Stil treu bleibend, eine philosophische und poetische Regiearbeit, ohne Fokus auf inhaltliche Substanz und Eigenständigkeit. Diese unverkennbare Akzeptanz von reiner Existenz griff Weerasethakul bereits auch mit „Uncle Boonmee erinnert sich an seine frühere Leben“ und dem homoerotischen Abenteuer „Tropical Malady“ auf. Um zu erklären, wie die Welt in seinen existenziellen und hochpoetischen Grundfesten aufgebaut ist, bedarf es aus Sicht des Thailänders keine ausbuchstabierten und totgeredeten Beschreibungen, sondern allein die mittlerweile als visuelles Erlebnis zu verstehende Erkenntnis, zu beobachten und zu erleben. Die meditative Grundstimmung des Films substanziiert der aufgrund seines komplizierten Namens meist nur Joe genannte Regisseur mithilfe einer audiovisuellen Perfektion. Da ihm Sprache als narratives Mittel nicht wichtig ist, fokussiert er sich durch Licht- und Einstellungsspielereien auf den optischen Effekt seiner Geschichte und erklärt die Thematik des Animismus anhand derselben Transzendenz, wie es diese ontologisch impliziert.

Durch Bilder, die ihre poetische Kraft entfalten und die Übergänge zwischen Realität und spiritueller Eingebung verwischen, bleibt das Gefühl dieser transzendenten Schönheit. Der Realitätsanspruch, den Thailänder und Weerasethakul im Besonderen haben, unterscheidet sich massiv von westlichen Auffassungen. Die Koexistenz zwischen jener spirituellen Religiosität und der tatsächlichen physischen Existenz ist ein Kontinuum, welches ohne das andere nicht funktioniert. So ist gerade „Cemetery of Splendour“ für Weerasethakul, wie jeder seiner Filme, ein persönlicher und nahegehender Film. Obgleich er in seinem Plot sehr dünn agiert, schöpft er seine Kraft aus der Relation von Verständnis und Empfindung. Die biografischen Parallelen lassen die emotionale Härte, mit der Weerasethakul hier voranschreitet, und ihren Mystizismus nicht so distanziert erscheinen, wie sie unter anderen Umständen sein könnten. Die menschliche individuelle Verknüpfung von Charakteren und Schicksalen ist eine für das Kino von Weerasethakul typische Stilübung. Denn trotz seiner oft fernen inhaltlichen Auseinandersetzung mit Thematiken wie Seelenwanderung und Realität bleibt deren Verkettung für ihn von zentraler Bedeutung.

Eine Annäherung durch die oft unfreiwillig komisch anmutenden Reaktionen der Personen ist ein bewusstes Stilmittel zur Falsifikation. Um sich nicht in einem transzendenten Urwald wie in „Uncle Boonmee“ zu verirren, nutzt man diese bewusste Vermenschlichung von Augenblicken. Bekommt ein Mann eine Erektion, während er schläft und die Frauen kichernd diese biologische Reaktion beobachten, hat dies wenig mit einer Mystifizierung zu tun, sondern gilt allein dem humoristischen Aspekt jener doch sehr absurden Thematik. Fällt Ken wieder infolge eines narkoleptischen Anfalls vollkommen unzusammenhängend in einen Schlaf, provoziert das ebenso Schmunzler, aber keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der thematisierten Krankheit. Jene Auseinandersetzung bedarf keiner Erklärungen oder Erzählungen, hier wird allein auf Ebene der optischen Darstellung eine Brücke geschlagen.

Anders als der Gewinner der Goldenen Palme des Jahres 2010, „Uncle Boonmee“, ist „Cemetery of Splendour“ eine beinahe anbiedernde, leicht verständliche, nachvollziehbare Reise in die Gefilde der Träume. Seinen großen Vorteil bezieht Weerasethakul aus der Menschlichkeit und Zementierung auf Charaktere, die zwar eigentümlich, aber nachvollziehbar sind. Am meisten lässt sich mit einem Vergleich seiner bekanntesten Werke arbeiten: Die Spiritualität eines „Uncle Boonmee“ und die menschlichen Züge eines „Tropical Malady“. Der Zugang zu seinem neueren Werk ist dadurch leichter und vor allem angenehmer.

Meinungen

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