Es ist eine Kunst, dieser Tage von einem Konzept überrumpelt zu werden, das schwarz auf weiß nach biederem Konsens klingt. „Nerve“ stellt sich insofern äußerlich als Thriller vor, der die Gefahren der Neuen Medien zynisch in den Fokus rückt und den Zeigefinger auf die eigene Zielgruppe deutet. Ein Stück weit reitet er auch auf dieser Ideologie, nutzt sie jedoch eher als Ausgangspunkt, um seine Prämisse zu einem Abenteuer zu engagieren, das ohne den Impuls der Innovation keines wäre. Die Regisseure Henry Joost und Ariel Schulman vermeiden den Widerspruch genutzter Technik und der unbedingten Dämonisierung dieser („Unfriend“), indem sie die Verantwortung des Users in den Vordergrund stellen, zwischen den Fronten vermitteln und Stück für Stück unterschiedlichste Genres anwenden. Die Wurzel zeigt sich noch als Coming of Age, wenn High-School-Protagonistin Vee (Emma Roberts) hadert, ganz gleich, ob sie sich beim College außerhalb anmeldet oder einen tollen Beau anzusprechen versucht. Freundeskreis und Familie spielen natürlich ebenso eine Rolle, ob der Geltungsdrang die Persönlichkeit pusht. Dies sorgt für eine pointierte Charakterisierung, legt aber auch den Grundstein für den im Film differenzierten Konflikt.

Ergänzt wird dieser vom Zeitgeist digitaler Verbundenheit, der hier über die Plattform Nerve eine Spielwiese in Mutproben findet, die per Livestream als Variante des amerikanischen Traums für schnelle Kohle sorgen. Neckisch und mit spielerischem Slang präsentiert der Film sodann den anarchischen Nervenkitzel, gepaart mit sozialer Interaktion, die dennoch den Beigeschmack verklärter Ausbeutung mit sich trägt. Ein Spiel hat eben Gewinner und Verlierer, es kommt nur darauf an, wie energisch die Teilnahme den Einsatz erhöht. Joost und Schulman setzen dafür initiativ die visuellen Spielereien der #Yolo-Generation ein („We Are Your Friends“) und holt den Soundtrack eines Lebensgefühls unter Teenagern hervor, die sich in idealistischen Trends zu finden versuchen. Völlig ungeniert erstreckt sich die Musikalität auch in der Gestaltung des Films, der seine enthusiastischen Sequenzen und Figuren zu ballen versteht, ohne den Impuls der Jugend verurteilen zu müssen. Vee trifft insofern eine wichtige Entscheidung, indem sie den Spaß mitmacht und ihrer Freundin Sydney (Emily Meade) zu beweisen versucht, wie viel sie eigentlich drauf hat. Alsbald kommt sie hinaus in die Öffentlichkeit und begegnet in Ian (Dave Franco) einem aufreizenden Mitteilnehmer, der zur Einstimmung erst einmal eine Musical-Nummer zu Roy Orbison schmettert.

Wenn da nicht schon freudig die Farben kitschigen Rock’n’Rolls vor die Augen knallen, geschieht die Teilnahme am visuellen Regenbogen erst recht, sobald Ians gemoddetes Motorrad aufleuchtet. Ab geht’s zum Abenteuer in die Nacht! Die Steigerung immer aberwitziger Challenges hat hier auch etwas Überforderndes an sich, eine Euphorie, die Vee überraschend überwältigt. Reiz und Risiko wirken in ständiger Abwechslung und bereiten unvergessliche Stunden inklusive Höhenkoller. Die Spirale an Geheimnissen dreht sich daneben genüsslich weiter, wie auch ihre Mitmenschen mit in der Leitung hängen, sich Sorgen machen oder Neid und Eifersucht ansetzen, um Vee sogar zu übertrumpfen. Der Geltungsdrang, auf Platz eins zu landen, überführt hier manch Schwäche des Einzelnen, bringt aber eine visuelle Nähe auf dem Pfad zur knallbunten Ungewissheit, als hätte „Neon Demon“ zugeschlagen, obgleich sich die Spannung aus David Finchers „The Game“ zieht.

Der Witz ist, dass „Nerve“ beide Filme jedoch in Ungezwungenheit und Freundschaft überbietet. Er stellt stimmige Charakterwerte über den Deutungstrieb, hat zwar die Realität der Smartphone-Vernetzung auf dem Kieker, ist sich aber nicht verlegen, das Freimütige und Romantische der menschlichen Begegnung zu fokussieren. Einzelne trivialere Motivationen können nicht darüber hinwegtäuschen, wie einladend sich jene Balance steigert und ulkige Eigenarten und Milieus kennenlernen lässt, in denen die Ethik auf den Prüfstand gerät und einen Kompromiss durch coole Hacker-Nerds und Mad-Max-Bros findet. Darin wird gewiss ein eskapistisches Märchen aufgetischt, wobei sich der Film dessen aber auch bewusst ist und unbekümmert unterhält, selbst wenn funktionelle Figuren eine Party feiern. Nicht, dass mehr Biss vorhanden sein könnte, doch man ist schon hin und weg, wie zielsicher die Emotionen und Genre-Optionen eines Jugendabenteuers jede Erwartung übertrumpfen und trotz einem Maß an Gefälligkeit nicht abstumpfen.

Meinungen

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