Mann trägt heute Wampe. Nicht nur Joaquin Phoenix als mürrischer Philosophieprofessor in Woody Allens College-Tragikomödie „Irrational Man“, nein, nun auch Colin Farrell in Yorgos Lanthimos’ „The Lobster“. Von Phoenix ist man bereits einiges gewohnt – vom Rapper-Junkie in der Mockumentary „I’m Still Here“ über den Hipster-Träumer in der Web-3.0-LovestoryHer“ bis hin zum kiffenden Privatdetektiv in „Inherent Vice“. Aber jetzt taucht auch Colin Farrell zu hundert Prozent ein in die Welt der schrägen Vögel. Und sie stehen ihm verdammt gut, dieser Spießerschnauzer und diese Wampe. Gemeinsam passen sie perfekt in die kuriose Dystopie des griechischen Filmemachers.

Auf die Frage hin, in welches Tier er gerne verwandelt werden würde, antwortet David (Farrell) ganz schlicht: in einen Hummer. Was auch Sinn ergibt – schließlich leben diese Tiere rund hundert Jahre. Das finden auch die Geschäftsführer des Single-Börsen-Hotels, in dem sich David gerade selbst eingewiesen hat. Die meisten würden sich ja ganz einfach für einen Hund entscheiden, weshalb wir auch so viele auf der Welt haben, obwohl wir die doch gar nicht alle bräuchten. Lieber mehr Vielfalt. Da sei so ein individuelles, seltsames Tier schon viel interessanter … So ungefähr kann man sich eine Konversation in Lanthimos’ epischem Gesellschaftsatyrikon vorstellen. Und gleichzeitig bringt sie auf den Punkt, um was es eigentlich geht. Die Welt ist gespalten in zwei Gruppen: Singles und Pärchen. Während Letztere ein zufriedenes, angenehmes Leben in der Stadt führen, haben es die Singles nicht leicht: Sie leben als Wildlinge – die sogenannten Loner – im Wald, tanzen gerne ganz für sich zu Technomusik, die aus ihren Smartphones schallt, und werden in der Nacht von den Hotelbewohnern gejagt. Genau, diese Hotelgäste: Sie befinden sich gerade in einem Zwischenstadium, haben beispielsweise ihre Ehefrau gerade verloren, sind schon lange Single und wollen endlich eine Beziehung, oder sind schlichtweg beziehungsunfähig. Und genau deshalb kommen sie an diesen Ort, dieses idyllische Küstenhotel, das neue Partnerschaften schmieden möchte. Und wenn dass nicht innerhalb von 45 Tagen geschieht, dann werden die Gäste eben in jenes Tier verwandelt, für das sie sich zu Beginn ihres Aufenthalts entschieden haben – wie David ein Hummer sein möchte.

Der Plot könnte einen leicht erschlagen, wenn Lanthimos ihn nicht so liebevoll zynisch inszenieren würde. So lässt er wunderbar seltsame Figuren in einer wunderbar seltsamen Welt umherstreifen. Ben Whishaw spielt einen hinkenden Sonderling, der so ziemlich alles für die Liebe tun würde, wie sich regelmäßig die Nase blutig zu schlagen, nur um eine Gemeinsamkeit mit einer schönen jungen Dame im Hotel zu haben und mit ihr ein Paar zu werden. Denn genau um diese Gemeinsamkeiten geht es in „The Lobster“. Sie führen die Menschen zueinander: Das kann dann Nasenbluten, ein hinkendes Bein sein, ein Sprachfehler oder auch völlige Emotionslosigkeit. Hauptsache es gibt ein weibliches und ein männliches Pendant, ein perfektes Match. Deshalb brauchen die Figuren – außer David – auch keine Namen. Ihre Eigenschaft ist ihr einziges individuelles Merkmal: John C. Reilly ist der lispelnde Einzelgänger, Rachel Weisz der kurzsichtige Loner, Léa Seydoux die rigorose Single-Anführerin, die niemandem eine Partnerschaft gönnt, und deshalb auch mal zu härteren Mitteln greift. Dann lässt sie Weisz erblinden, nur damit diese nicht mehr mit David glücklich werden kann.

Es ist eine skurrile Welt, die Lanthimos kreiert. Ein düsteres Universum, das vor allem von seinen schrägen Details lebt und wie eine Art Wes Anderson für Erwachsene daherkommt, ohne kunterbunte Pappkulissen, aber dafür mit einer zynischen Dystopie: In ihr ist es ganz normal, dass ein Kamel, ein Schwein, ein Flamingo durch den Wald spazieren; dann hat sich eben ein Hotelgast für dieses Tier entschieden und dann passt es auch in die Gesellschaft von „The Lobster“. Und genau das ist das Großartige an diesem Film: eine Welt abzubilden, die unserer so ähnlich ist, aber sehr zugespitzt und verfremdet genau das entblößt, was wir in der Realität noch zu ignorieren versuchen. Ist das vielleicht gar ein Post-Tinder-Universum, wie man es bereits auf dem Weg aus dem Kinosaal nach dem Screening in Cannes so manchen Besucher munkeln hat hören?

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